"Liebe Mama..."

Liebe Mama, manchmal habe ich Angst.

Vor etwa elf Jahren hat meine Mama die Diagnose Alzheimer bekommen – und damals hatte ich große Angst um sie. Ich dachte, dass die Krankheit sicher schnell verläuft, weil sie sie in relativ jungem Alter bekommen hat. Doch das war nicht der Fall. Im Gegenteil, ich habe viel gelernt über und mit der Demenz. Und doch mischt sich immer wieder die Sorge vor der Zukunft ein. Ein neuer Brief: Liebe Mama, manchmal habe ich Angst.

Es ist so schön, dich lächeln zu sehen.
Foto: D. Laudowicz

Liebe Mama, manchmal habe ich Angst.

Meine liebe Mama, habe ich dir je gesagt, dass ich Angst um dich habe? Damals nach der Diagnose sicher nicht – und dabei hatte ich solche Angst. Angst vor dem, was da kommt und was die Alzheimerkrankheit mit dir machen würde. Ich hatte Angst davor, weil ich nicht wusste, was uns wirklich erwartet. Und ich hatte Angst, weil ich mich hilflos gefühlt habe. Dein Arzt hat dir ein Medikament verschrieben, aber hat von Anfang an gesagt, dass keine Arznei die Krankheit aufhalten könnte. Was für eine Aussicht war das…

Ich wollte dir nicht sagen, dass ich Angst habe. Ich wollte dich nicht noch trauriger machen und hatte das Gefühl, ich muss stark sein. Für dich und für meine Tochter.

Ich möchte stark sein und für dich da sein

Ich möchte so gerne stark sein, vor meinen Kindern und ihnen immer zeigen, dass ich mich gut um dich kümmern kann. Für dich da sein möchte ich, so gut und perfekt wie es nur geht. Und ich möchte, dass es dir mit deiner Demenzerkrankung gut geht und du viele Glücksmomente erlebst. Ich möchte mit deiner Demenzerkrankung klarkommen – und ziemlich oft kann ich das mittlerweile auch. Aber manchmal macht es mich einfach nur traurig, auch weil da immer wieder Abschiede sind, ohne dass ich mich richtig verabschieden kann.

Und manchmal bekomme ich Angst. Als ich neulich bei euch war und morgens zu dir ins Bett gekrabbelt bin, ein wenig wie früher und doch nicht, da habe ich auch Angst bekommen. Du lagst im Bett und hast die Augen einfach nicht aufbekommen. Ich habe deine Stirn gestreichelt und „Guten Morgen, Mama“ gesagt. Du lagst seltsam reglos im Bett und mich durchzuckte ein trüber Gedanke nach dem anderen. Du warst so still und friedsam – und ich habe Angst bekommen.

Ich habe Angst vor dem, was da kommt

Liebe Mama, ich habe Angst vor dem, was da kommt. Ich habe Angst, dich zu verlieren und irgendwann endgültig Abschied nehmen zu müssen. Auch, wenn ich schon längst erwachsen bin, so bin ich doch dein Kind. Und du meine Mama.

Ich habe Angst, dass ich dich nicht gut genug begleiten kann. Du bist in den vergangenen Monaten sehr ruhig und still geworden. Schläfst tagsüber viel, wachst morgens nur langsam auf. Ist das der Weg, den deine Alzheimererkrankung weiter nehmen wird? Ich habe keine Ahnung. Und so wirklich wissen möchte ich es eigentlich gar nicht. Denn ich habe Angst.

Ich habe noch nie jemanden begleitet, der sich so sehr verliert, wie du es in den vergangenen Jahren getan hast. Ich habe Angst vor dem Abschied und vor meinen Gefühlen. Werde ich dann wissen, was du brauchst. Und wie?

Ist es wie bisher: Wenn ich bei dir bin und auf dich schaue, erkenne ich so viel: was du noch kannst, wie es dir geht, was dir guttut und dass du es meist gut hast. Mein Herz und mein Bauch können jede Menge lesen und erkennen, sie waren der beste Ratgeber in den vergangenen Jahren mit der Demenz. Ich hoffe, dass das bleibt. Kann ich darauf vertrauen?

Meine Angst zeigt, dass du mir wichtig bist

Meine liebe Mama, manchmal habe ich Angst. Da sind so viele Fragen, die sich auftun. Ich kann nicht immer so stark sein, wie ich es gerne wäre. Manchmal muss ich weinen. Aber vielleicht ist das auch okay, oder? Vielleicht ist das normal. Als ich neulich aus meinem Buch vorgelesen habe, habe wir uns danach unterhalten. Und ich habe gesagt: „Ich wünsche mir, dass wir auch über die Traurigkeit erzählen können, denn sie zeigt, dass uns etwas wichtig ist.“

Vielleicht ist das mit der Angst auch so. Ich habe Angst vor dem, was da kommt, weil ich dich so sehr mag und an dir hänge.

Und vielleicht darf ich auch einfach vertrauen. Ich hatte große Angst, dass du mich irgendwann mal nicht mehr erkennen würdest. Und nun ist es mir irgendwie egal und ich frage mich nicht mehr, ob du mich noch erkennst. Ist das so?

Ich bin so froh, dass bald Ferien sind und ich mehr Zeit bei euch verbringen kann. Denn bei dir zu sein und sich um dich zu kümmern, nimmt mir ein wenig die Angst. Ich merke, ich kann dir Gutes tun und dir geht es gut, trotz und mit der Demenz. Es fühlt sich nicht ganz so hilflos an.

Liebe Mama, manchmal habe ich Angst. Das gehört dazu, oder? Ich habe dich sehr lieb.

Deine Peggy

10 Gedanken zu „Liebe Mama, manchmal habe ich Angst.“

  1. Liebe Peggy, Dein Brief an Deine Mama hat mich zu Tränen gerührt. Du sprichst mir da so sehr aus der Seele, ich hatte das Gefühl Du schreibst von mir und meiner Mama. 😌
    Ich führe jetzt sogar eine Wochenendehe, weil ich bei meiner Mama in der Nähe sein will. Was nicht jeder versteht, aber ich musste sie schon ins Heim geben weil es zu Hause einfach nicht mehr ging. Und ich will einfach jeden Moment ob traurig oder schön mit ihr genießen und ihr soviel Glücksmomente bescheren wie ich nur kann.
    Die Angst ist zwar auch mein ständiger Begleiter und ich kann leider noch nicht so gut damit umgehen.
    Aber ich sehe und spüre am Besten wie es ihr geht, weil sagen kann sie es leider nicht mehr.
    Wobei letzte Woche bin ich vor ihr in Tränen ausgebrochen, weil ich so Angst um sie habe und habe es ihr gesagt. Und da kam von Mama wie aus dem Nichts „Brauchst Du nicht“.
    Ich war so gerührt.
    Danke für Deinen Blog und Euren tollen Podcast!

    1. Liebe Ina,
      vielen Dank für deine lieben und offenen Worte. Danke auch, dass du mir von diesem schönen Erlebnis mit deiner Mama berichtet hast. Ich hatte mal ein ähnliches Erlebnis mit meiner Mama und es zeigt irgendwie, dass da so viel mehr als Nichts ist, so wie es vermeintlich immer geschildert wird.
      Ich wünsche dir, dass du noch viele schöne Momente mit deiner Mama erlebst. Es muss auch nicht jeder verstehen, was du machst. Ganz und gar nicht. Es ist dein, es ist euer Weg und wie der aussieht, bestimmt ihr selbst und nicht irgendwelche Konventionen.
      So schwer es ist, mir hilft es tatsächlich, über die Angst und Traurigkeit zu sprechen und auch zu schreiben. Es verschwindet dadurch nicht, aber es hilft mir, damit umzugehen und vielleicht auch eine andere Perspektive zu sehen.
      Ich drücke dich im Herzen und alles Liebe für dich und euch!

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