"Liebe Mama..."

Liebe Mama, wann fängt das Abschiednehmen an?

Ich bin nicht gut im Loslassen und Veränderungen machen mir oft Angst. Ich habe noch jemanden beim Sterben begleitet. Meine Großeltern sind jeweils unerwartet gestorben, ohne dass ich mich darauf hätte vorbereiten können. Mit meiner Mama erlebe ich das nun irgendwie anders. Seit Jahren habe ich Angst davor, dass sie stirbt. In letzter Zeit ist sie sehr viel ruhiger geworden. Mir macht es Angst, dass das Abschiednehmen anfängt. Darin geht es in diesem Brief an Mama – und darum, dass das Abschiednehmen ja längst angefangen hat.

Momente der Nähe, Mama und ich
Bild: Daniel Laudowicz

Liebe Mama, wann fängt das Abschiednehmen an?

Liebe Mama, kannst du dich an deine Alzheimerdiagnose erinnern? Das ist nun ziemlich genau zwölf Jahre her, und ich weiß noch wie heute, wie Papa mir von deiner Diagnose am Telefon erzählt hat. Ich erinnere mich sehr gut daran, wie ich mich fühlte. Da war diese plötzliche Angst, dass du stirbst und von uns gehst.

Ich weiß, dass diese Angst eigentlich absurd war. Dir ging es ja gut und du warst fit. Nur, weil du die Diagnose Alzheimer bekommen hattest, hatte das ja nichts an deinem Gesundheitszustand verändert. Aber mir hat die Diagnose große Angst gemacht. Und auch die Worte deines Arztes ein paar Tage später haben mich kaum beruhigt. Er meinte, man könne nicht vorhersagen, wie sich so eine Demenz entwickelt, bei manchen Menschen schreite sie schnell voran, bei manchen sehr langsam. Ich hatte so viele Beriche über Jung Erkrankte gelesen – und meist stand dabei, dass die Krankheit schnell voranschreitet…

Ich dachte, ich muss sofort Abschied nehmen – aber zum Glück mussten wir das nicht. Denn irgendwie lief alles scheinbar wie immer weiter, zumindest erst einmal. Die Veränderungen und Abschiede zeigten sich immer wieder, aber in einem langsamen Tempo.

Es war vor ein paar Monaten, als dieser Winter nicht aufhören wollte, dass du so ruhig und schläfrig geworden bist. Ich habe dich sehr selten wach erlebt, du hast nur wenig gegessen und ich habe Angst bekommen. Angst, dass der letzte Abschied nun beginnen könnte. Wem auch immer ich von dir erzählt habe, hat geantwortet, dass Menschen, die ihre letzten Tage und Wochen leben, sich oft ähnlich verhalten.

Ich dachte, dass jetzt wohl die Zeit gekommen ist, dass der letzte Abschied anfängt. Im Kopf bin ich meine Aufträge und Projekte durchgegangen und habe überlegt, welche ich auf Eis legen kann und ob ich es irgendwie finanzieren kann, ein paar Monate wenig zu arbeiten, um dich besser begleiten zu können. Ich habe mich gefragt, wie ich mehr für dich da sein kann und weiterhin für die Kinder und unsere Ausgaben bezahlen kann. Vor lauter Grübeln konnte ich manchmal kaum schlafen.

Und dann habe ich mit einer Bekannten gesprochen. Ihr Vater hatte Demenz und ist vor über einem Jahr gestorben. Ich habe ihr von meiner Angst, dass ich nun bald Abschiednehmen muss, erzählt. Und sie erinnerte mich daran, dass der Abschied schon vor Jahren angefangen hat, vielleicht sogar mit der Diagnose.

Auch in der letzten Podcastfolge von “Leben, Lieben, Pflegen” mit Robert haben Anja und ich über dieses Abschiednehmen gesprochen. Robert hat davon erzählt, wie schwer es ihm an manchen Tagen fällt, sich immer mehr von seiner Frau verabschieden zu müssen und wie groß seine Angst vor dem Loslassen ist. Mit der Demenz zu leben sei wie “Trauer auf Raten”.

Ja, da hat er Recht, denke. In den vergangenen Jahren habe ich mich von dir immer ein wenig mehr verabschieden müssen. Erst waren es Mutter-Tochter-Gespräche, irgendwann waren es Worte und nun ist es dein Lachen und dein Strahlen in den Augen. Ich bin traurig darüber, dass all das gegangenen ist. Ich weiß nicht, ob der Abschied leichter wäre, wenn ich mich bewusst hätte verabschieden können. So bleibt mir, bleibt uns, nicht viel mehr übrig als anzunehmen, was ist.

Liebe Mama, wie erlebst du diesen Abschied? Spürst du Trauer oder Wut oder Hilflosigkeit? Oder spielt es für dich gar nicht so eine Rolle? Du wirkst auf mich oft in Ruhe und Frieden mit dir. Fühlt es sich auch so an? Ach, Mama, ich wüsste nur zu gerne, wie es dir wirklich geht.

Und während ich ein wenig sehnsüchtig und wehmütig werde, denke ich an Robert, der sagte: “Die Krankheit ist immer da, kalt und grausam. Deshalb müssen wir einfühlsam sein, warm und zärtlich. Nur so können wir ihr begegnen. Besiegen können wir die Krankheit nicht, aber wir dürfen nicht gegen sie verlieren.”

Wir werden weiter Abschiednehmen und keiner weiß, wann der letzte Abschied beginnt. Aber eines weiß ich: Du wirst immer meine Mama bleiben. Wir können für dich da sein, wir können es dir so schön wie möglich machen.

Auch, wenn der Abschied schon lange begonnen hat, bin ich dankbar, dass wir noch so viel Zeit miteinander hatten und immer noch haben.

Danke für dein Dasein, liebe Mama!

Deine Peggy

3 Gedanken zu „Liebe Mama, wann fängt das Abschiednehmen an?“

  1. Liebe Peggy
    Was ein wundervoller Brief! Bei uns schreitet die demenz scheinbar auch voran u ich sage meinem Mann immer wieder, er soll sich vorbereiten auf das schlimmste und die Zeit mit seiner Mama so gut es geht genießen….und ein bisschen Abschied nehmen….schwer, traurig….
    Liebe Grüße Anja

  2. Hallo Peggy,
    Wenn Du Kinder hast wie ist eigentlich der Kontakt zu Ihrer Großmutter?
    Unsere Tochter erwartet Zwillinge und für meinen Mann, mit 55 an Alzheimer erkrankt ist die Situation sehr schwierig, weil er weiß seine Enkelkinder nicht aufwachsen zu sehen.
    LG Bettina

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