"Liebe Mama..."

Liebe Mama, bist du einsam?

Meine Mama ist oft in einer anderen Welt. In der Alzheimer-Welt. Ich wüsste gerne, wie es dort ist. Fühlt sie sich dort wohl? Wie ist es dort? Liebe Mama, fühlst du dich einsam?

Ich und du – wie schön!

Liebe Mama, fühlst du dich einsam?

Momentan wird viel über Alzheimer gesprochen und geschrieben. Es gibt tolle Filme, Sendungen und Bücher. Ich lese viel und tausche mich auch dank des Blogs mit anderen Betroffenen aus. Viele Bekannte und Freunde haben nun davon erfahren und fragen – und ich kann darüber sprechen.

Ich kann sagen, dass ich mich nicht entspannen kann, wenn ich zu meinen Eltern fahre (so wie es alle annehmen, die nicht wissen, dass du krank bist) und dass es für mich noch mal zusätzlicher Stress ist zu den Kindern. Ich merke, wie gut es mir tut, dass ich offener damit umgehe. Ich kann endlich sagen: „Meine Mama hat Alzheimer“, ohne dass ich weine oder mir die Tränen verdrücke.

Je mehr ich über das Einsame spreche, umso besser geht es mir

Diese Offenheit ist sehr zart und gleichzeitig stark, denn sie muss etwas Schweres tragen, so wie ein Schneeglöckchen, das nach einem langen Winter seine Stängel mit Kraft durch die Schneedecke schiebt. Genauso einsam und zerbrechlich fühle ich mich auch.

Und es ist doch paradox: Je mehr ich dieses Einsame nach außen kommuniziere, umso besser geht es mir, weil ich dann etwas weniger einsam bin. Ich habe über den Blog neue Menschen kennengelernt, die in einer ähnlichen Situation sind. Das tut gut. Ich bin dann auch ein bisschen weniger traurig, denn ich merke, ich bin nicht die Einzige, die sich in einem relativ frühen Alter Schritt für Schritt von ihrer Mama verabschieden muss, obwohl sie doch eigentlich noch da ist. Andere kennen diese vielen kleinen Abschiede.

Du gehst Runde für Runde alleine

Und dann denke ich an dich. Ich sehe dich, wie du in deinem Lieblingssessel sitzt. Du bist alleine, wenn du Runde für Runde im Esszimmer um den Tisch gehst. Du bist alleine, wenn wir am Tisch sitzen, essen und erzählen. Du kannst nicht mehr mitreden. Du kannst nicht mitmachen, wenn die Kinder spielen. Bist du dann einsam? Du wirkst meist nicht unglücklich. Du nestelst mit deinen Fingern an deiner Strickjacke und gehst und gehst. Oder du sitzt und schaust in die Ferne.

Aber manchmal, da blickst du hilflos um dich. Und diese Situationen werden häufiger. Wenn Papa dich anzieht und dir geduldig sagt: „Jetzt das rechte Bein“, „Das rechte Bein“, „Das Bein hier“, dann stehst du da und weißt nichts mit deinem Bein anzufangen. Du schaust ihn mit deinen lieben Augen an. Wenn ich dir die Haare waschen will und sage: „Komm, jetzt beuge mal den Kopf nach vorne“, dann siehst du mich an. Manchmal nickst du, weil ich nicke. Aber du hast nicht verstanden, was ich gesagt habe. Ich kann dich mit meinen Worten nicht mehr erreichen. Du bist woanders.

Ein Dorf in China?

Ich habe mal gelesen, dass Alzheimer zu haben so ist, wie wenn man in China in einem Dorf abgesetzt wird und nichts versteht und niemanden kennt. Im ersten Augenblick klang das wie ein guter Vergleich. Aber ich glaube, dein Woanders ist nicht in einem Dorf in China. Ich habe ein bisschen Angst, dass dein Woanders einsam und verborgen im Nirgendwo liegt. In einem Nirgendwo, wo wir nicht hinkommen und du nicht rauskommst.

Ich war noch nie in einem Dorf in China, aber in einigen Dörfern in Afrika. Da kannte ich anfangs niemanden und konnte die Sprache nicht sprechen. Und doch war ich alles andere als einsam, denn sofort kamen Menschen und wir konnten kommunizieren, auch ohne gemeinsame Sprache. Wir konnten auf Dinge zeigen und uns in die Augen schauen. Wenn ich dir etwas zeige, dann kannst du nicht mal mehr meinem Finger folgen. Es bringt nichts, wenn ich beim Anziehen auf dein rechtes Bein tippe. Du weißt dann immer noch nicht, was du damit machen musst. Ich muss es dir anheben und in die Hose schieben. Denn du bist tatsächlich woanders.

Fremd in deinem Zuhause

Und doch glaube ich, dass du jetzt weniger einsam bist als noch vor ein paar Jahren. Als die Alzheimer-Erkrankung noch nicht so weit fortgeschritten war, konntest du noch viel. Aber du hast gemerkt, dass du Dinge vergisst, nicht mehr weißt oder dir ganz normale Alltagshandlungen schwerfallen. Du warst oft traurig und hast geweint. Vermutlich hast du noch viel mehr geweint, wenn ich und die Kinder nicht dabei waren. Du hast dann Medikamente bekommen, und es wurde ein wenig erträglicher für dich, zumindest hast du wieder häufiger gelacht und warst nicht nur deprimiert. Aber heute verstehe ich, dass du dich einsam gefühlt hast, weil du plötzlich allein und unsicher in deinem eigentlich vertrauten Umfeld warst. Fremd im eigenen Zuhause.

Die Autorin Doris Reckewell hat in ihrem Ratgeber („Bis ich unterm Himmel hänge“, Ernst Reinhardt Verlag) über die gängige Einteilung der Demenz in drei Phasen geschrieben: „Diese Bezeichnung ist aus Sicht des dementen Menschen aber völlig falsch, denn die erste, die leichte Phase ist für ihn die schwerste… In dieser Phase hat der demente Mensche Hilfe und Zuneigung bitter nötig und bekommt sie doch am wenigsten.“

Du bist woanders

Du bekommst viel Zuneigung und Hilfe. Papas Gedanken und Mühen kreisen nur um dich. Er ist fast immer bei dir und umsorgt dich so, wie man es jedem Erkrankten nur wünschen kann. Und du bist in der Tagespflege mit anderen zusammen, du magst die Pflegerinnen, und du kommst dort gut klar. Vermutlich bist du jetzt, wo die Krankheit in die schwere Phase überdriftet, gar nicht mehr so einsam wie am Anfang. Du bist einfach nur im Woanders.

Mit Lächeln und Streicheln gelingt es, dich in unsere Welt zu holen und gemeinsame Momente zu haben. Aber es wird immer schwerer. Und ich merke, dass es uns einsam macht. Papa ist jeden Tag mit dir zusammen – und doch ohne dich. Du bist in deiner eigenen Welt. Sogar mich macht es einsam, dass du nicht mehr bei mir bist. Ich bin ja schon lange zu Hause ausgezogen, aber wir waren uns trotzdem nah. Wir konnten telefonieren, uns schreiben, besuchen. Jetzt besuche ich euch und spreche mit dir, aber du bist woanders. Du schaust mich mit großen Augen an. Ich erzähle dir, wie es mir geht. Ich hoffe, dass du reagierst. Aber du bist in deiner Welt – und ich fühle mich verlassen.

Deine Peggy

8 Gedanken zu „Liebe Mama, bist du einsam?“

  1. Ach, Peggy, wie sehr gehen mir Deine Artikel ans Herz! Ich wünsche Dir weiter viel Kraft, wo auch immer Du sie hernimmst. Genieße das Zusammensein mit Deiner Mama, solange sie noch auf (nicht in) unserer Welt ist, auch wenn es kein unbeschwertes, sondern ein schweres Miteinander ist. Du kannst ihr ganz viel von dem zurückgeben, was sie Dir als Kind gab. Auch wenn sie es, vielleicht, garnicht mehr versteht. Nein, es ist wirklich nicht leicht, die Kindrolle aufgeben zu müssen, vor allem wenn man seinen Kindern gegenüber auch noch in der Mutterrolle ist. Alles Liebe, Dorothee

    1. Liebe Dorothee, danke für deine guten Wünsche! Ich und auch mein Papa und der Rest der Familie versuchen das Zusammensein zu genießen (auch wenn es schwieriger wird), aber das wichtigste ist ja: Mama ist noch da. Und sie kann sich so wunderbar freuen, wenn sie uns sieht und herzlich lachen.

  2. Ja, ich kann das aus eigener Erfahrung gut verstehen! Es ist jedes Mal wieder ein kleiner Tod, bei dem wir unseren Angehörigen zusehen müssen. Jedes Mal wieder ein kleiner Abschied.

    Du schreibst: “Mit Lächeln und Streicheln gelingt es, dich in unsere Welt zu holen und gemeinsame Momente zu haben. Aber es wird immer schwerer.”

    Ich glaube, die Aufgabe ist, uns von den erlernten Kommunikationswegen zu verabschieden und uns auf den Weg zu unser Angehörigen zu machen. Sie können nicht zu uns kommen, aber wir können zu ihnen gehen. Bei ihnen, in ihrer Welt, gibt es Momente der Begegnung, wenn wir uns darauf einlassen. Auf die Langsamkeit, auf die Wortlosigkeit, und uns nur auf einer Gefühlsebene verbinden.
    Ich war erstaunt, wie feinfühlig meine Mutter für kleinste Miss-Stimmungen meinerseits war, wo sie doch ansonsten kaum etwas um sich herum mitzubekommen schien. War ich aber schlecht drauf, kam es oft zu kleinen Gesten, die ich noch von früher kannte, wie ein Streicheln oder ein Blick, der in mich zu dringen schien. Ich hatte immer wieder das Gefühl, JETZT sind wir zusammen, FÜHLEN wir zusammen, jenseits aller Worte. Ich kann es nicht besser beschreiben, aber vielleicht weißt du auch so, was ich meine.

    Und andererseits hat es auch zu wirklich komischen Situationen geführt, wenn ich gut drauf war. Meine Mutter hat sehr früh aufgehört, selbständig zu essen, noch zu Hause, als ob sie der Meinung gewesen wäre, sie habe lange genug alles selbst gemacht, jetzt könnten wir das mal für sie tun. Später, als sie aufgrund eines Sturzes nicht mehr zu Hause bleiben konnte und im Heim war, bin ich oft abends zum Essenanreichen vorbeigefahren, und machmal war sie so fröhlich und ausgelassen, wie ich sie gar nicht kannte. Hat den Mund aufgesperrt und lustige Grimassen gezogen und viel und laut gelacht. Diese Augenblicke haben mir so viel gegeben! Es war nicht jeden Tag leicht, mich auf sie einlassen, aber immer, wenn das geglückt ist, hatte ich den Eindruck, haben wir beide davon profitiert. Ich habe aus dieser Zeit noch viele Fotos, die zum Teil mein Mann von uns gemacht hat während des Essen, zum Teil habe ich selber Fotos gemacht. Diese Fotos sind auch heute noch eine schöne Erinnerung für mich, obwohl Menschen, die den Verfall meiner Mutter nicht so eng miterlebt haben, von den Bildern eher abgeschreckt sind.
    Mein Vater konnte sich nie auf die Erkrankung meiner Mutter einlassen, besonders auf ihre Geschwindigkeit bzw. Langsamkeit, und ich glaube, ihm sind dadurch viele schöne Momente verwehrt geblieben. Aber jeder geht da seinen eigenen Weg. Zu sehen, wie sich der Lebenspartner verändert, ist sicher auch nochmal anders, als das bei den Eltern mitzuerleben.

    Liebe Grüße an dich,
    Andrea

    1. Liebe Andrea,
      oh ja, ich weiß, was du meinst mit dem Streicheln und dem Blick. Meine Mama ist sehr feinfühlig. War sie schon immer, aber sie nimmt es ganz besonders wahr, wenn es irgendwie stressig wird oder man es stressig macht.
      Der Weg zu ihr in ihre Welt ist schwierig. Ich merke, ich kann mich besser auf sie einlassen, wenn ich ohne meine Kinder bin. Aber da meine Kinder klein sind, bin ich das nicht so oft. Und eigentlich möchte ich ja auch mit meinen Kindern bei meiner Mama sein.
      Ach, es ist ein Weg und ich lerne immer dazu.
      Danke für deine Wünsche!

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