"Liebe Mama..."

Liebe Mama, macht die Demenz dich frei?

Darf ich diesen Gedanken überhaupt haben? Schon während er sich in meinem Kopf zusammensetzt, frage ich mich das. Frei sein ist etwas Positives, die Alzheimer-Krankheit etwas Negatives – diese Assoziationen habe ich gelernt, irgendwie verinnerlichert. Mama ist mehr und mehr auf Hilfe und Unterstützung angewiesen, aber auf mich wirkt sie oft so zufrieden. Sie ist in ihrer Anders-Welt und irgendwie macht die Demenz sie frei von all dem, was ich an Regeln, Routinen und Erwartungen lebe oder denke leben zu müssen. Und dann merke ich, dass Mamas Alzheimer nicht nur schrecklich und traurig ist, sondern auch ein paar positive Punkte mit sich bringt – und dass ich diese Erkenntnisse nutzen kann (und sollte).

frei sein
Liebe Mama, danke für dieses Bild, das du mir gemalt hast. Eine Taube auf dem Weg in die Freiheit?

Liebe Mama, macht die Demenz dich frei?

Neulich habe ich mich bei einem Gedanken ertappt, der irgendwie absurd erscheinen mag. Ich habe dich beneidet. Ich dachte, dass du es gut hast, weil du frei bist. Frei von den Regeln und Routinen, die meinen Alltag bestimmen. Frei von den Erwartungen und Verpflichtungen, die ich in mir trage.

Und während ich dies hier schreibe, frage ich mich: Darf ich das überhaupt schreiben? Denn eigentlich bist du gar nicht frei. Du hast Alzheimer und die Krankheit schreitet immer weiter voran. Du brauchst viel Unterstützung und Hilfe. Ohne Papa, der Tag für Tag liebevoll an deiner Seite ist, könntest du nicht mehr zu Hause wohnen. Du bist gefangen in der Krankheit. Vielleicht auch einsam in deiner kleinen Anders-Welt? Und es gibt nichts, das dich daraus holen kann, weil es immer noch keine Heilung gegen Alzheimer gibt.

Die Zeit nach deiner Diagnose war ein Auf und Ab. Zum einen wusstest du endlich, was ist. Du hattest einen Namen für das, was dir schon seit einer Weile Probleme bereitet hatte. Zum anderen waren da aber auch Angst, Traurigkeit und Wut. In vielen Momenten hast du dich – und ich mich auch – hilflos gefühlt. Wenn du weinend im Flur standest, haben wir dich in den Arm genommen. Aber die richtigen Worte zu finden, war schwer. Ein „Alles wird wieder gut“ oder „ist nicht so schlimm“, wie ich es den Kindern bei Verletzungen und kleinen Unfällen sage, konnte ich nicht aussprechen.

Du warst gefangen in deinen Gedanken und Sorgen um die Krankheit. Du bist viel gelaufen, um dich abzulenken. Und du hast gemalt. Du hast mir drei Bilder geschenkt, auf zweien sind Tauben zu sehen. Es sind Tauben, die ihre Flügel ausbreiten und davonfliegen. In die Freiheit?

Du wurdest frei beim Essen

Je weiter sich die Krankheit entwickelt hat, umso ruhiger bist du geworden. Du hast dich aber auch anders verändert. Beim Essen zum Beispiel hat man das sehr gut gemerkt. Früher warst du meist abwägend, hast zwar mit Genuss, aber auch mit viel Bedacht gegessen und immer auf dein Gewicht und deinen Körper geachtet (ein wenig wie ich das heute handhabe). Dann kam die Alzheimer-Erkrankung und dein Essverhalten hat sich geändert.

Du hattest Appetit und hast gegessen, was und wie viel du wolltest. Ja, du hast auch zugenommen und wurdest kräftig. Das war ungewohnt, weil du früher eine zarte und schmale Person warst. Aber irgendwie fand ich es auch schön, denn ich hatte das Gefühl: du genießt das Essen so richtig. Du wirktest befreit von diesen Bloß-nicht-dick-werden-Gedanken, die so viele Frauen (und auch ich) in sich tragen. Du hattest Spaß am Essen. Und wenn dir etwas nicht geschmeckt hat, hast du es schon mal ausgespuckt. Ich kann mich so gut an diesen Moment erinnern. Zugegeben, ich war überrascht, denn das macht sonst keiner und auch meine kleinste Tochter weiß, dass man das nicht macht, aber irgendwie fand ich es toll. Deine Reaktion wahr so ehrlich und echt und frei.

Die Demenz macht dich frei von den Erwartungen

Mittlerweile isst du sehr langsam und manchmal magst du gar nicht. Du steckst immer mehr in deiner kleinen Anders-Welt. Und ich muss gestehen, dass es mir manchmal schwerfällt, mit dir zu sein und mit dir Kontakt aufzunehmen. Du wirkst mitunter ganz weit weg. Aber: Oft habe ich das Gefühl, dass es dir dabei eigentlich gut geht. Du lebst einfach im Moment und bist ganz bei dir. Das, was ich mir durch Mediation oder Yoga erarbeiten muss, lebst du durch deine Krankheit. Du bist frei von den Erwartungen anderer – und von deinen eigenen.

Ich hänge so oft an meinen Erwartungen und Verpflichtungen. Ich bin damit beschäftigt meine „To-Do-Liste“ abzuarbeiten und unzufrieden, weil es mir doch nie gelingt. Denn ich packe sie viel zu voll und erwarte von mir, jede einzelne Aufgabe auf dieser Liste pünktlich und perfekt abzuarbeiten. Aber jetzt merke ich, wie sehr mich das an meine Grenzen bringt und wie wenig ich da bei mir bin. Und: Wie sehr ich mir wünsche, ich wäre frei von diesen Zwängen und Regeln. Ich würde gerne Ruhe in mir haben, so wie du sie scheinbar hast. Weniger eine Getriebene sein im Strudel des Alltags.

Woher kommen meine Regeln?

In diesem Sinne hat deine Krankheit auch etwas Positives, wenn man das so sagen kann. Sie hilft mir zu sehen, dass es genügt, einfach zu sein und zwar so wie ich bin und nicht, wie ich denke sein zu müssen. Vor kurzem habe ich mit dem Demenzberater und Autor Markus Proske über Humor in der Demenz gesprochen und seine Worte wirken immer noch nach. „Einfach da zu sein als Mensch, das ist doch wunderbar und reicht völlig„, hat er gesagt. Wie Recht er doch hat – und wie merkwürdig, dass ich das vorher nicht verstanden habe. Die Erwartungen und Verpflichtungen treiben uns oft unnötig an, aber einfach im Moment zu leben, erdet und bringt mich zu mir.

Meine Regeln und Erwartungen mache ich mir zu einem Teil ja selber. Ich gestalte sie und erwarte, dass ich sie genauso so erfülle. Sie geben mir einerseits Halt, aber andererseits grenzen sie mich ein. Du bist frei in der Demenz, weil du die Regeln nicht mehr kennst. Weil du in deiner Anders-Welt lebst und dort keine Erwartungen und Verpflichtungen gelten, sondern einzig der Moment. Ich möchte deine Erkrankung nicht verklären, aber doch auch zeigen, dass es so etwas wie einen inneren Frieden gibt (wenn du Menschen um dich hast, die sich um dich sorgen und dich in deinem Tun und Sein bestätigen, ohne in die „Wir-müssen-doch-was-machen-Falle“ zu tappen).

Danke, dass du mir hilfst zu sehen, was wichtig ist!

Liebe Mama, danke, dass du mir hilfst, ein bisschen mehr über das Leben zu erkennen. Die Alzheimer-Erkrankung ist schrecklich und ich würde alles dafür geben, dass du wieder gesund wirst, aber sie zeigt mir auch, dass es nicht nur die eine Sicht gibt, sondern immer mehrere Perspektiven. Sie hilft mir auch zu sehen, dass ich vieles selbst in der Hand habe und dass ich Dinge ändern kann. Dich hat die Krankheit von den Erwartungen anderer und von deiner eigenen befreit, aber es sollte auch anders gehen, oder?

Liebe Mama, das war jetzt sehr philosophisch. Ganz bestimmt philosophischer als wir früher jemals miteinander gesprochen oder geschrieben haben. Aber ich war dann mal so frei. Danke!

Deine Peggy

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