"Liebe Mama..."

Liebe Mama, fast hätte ich das Wichtigste vergessen!

Ich war fast eine Woche bei meinen Eltern und wollte so viel erledigen und helfen. Ich habe nur halb so viel geschafft, wie erhofft und wollte mich deshalb schon stressen. Doch dann habe ich gemerkt, dass ich das Wichtigste fast vergessen hätte in all den Aufgaben und To-Dos: Zeit mit meiner Mama zu verbringen. Und das habe ich gemacht (statt Haushalt). Ein Brief an meine Mama.

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Danke, liebe Mama, für die gemeinsame Zeit!

Liebe Mama, fast hätte ich das Wichtigste vergessen!

Und zwar: Einfach nur Zeit mit dir zu verbringen.

Ich war fast eine Woche bei dir und Papa. Ich wollte Zeit mit euch verbringen und vor allem wollte ich helfen. Naja, eigentlich wollte ich Urlaub machen, aber dann kam Corona und der Lockdown. Ich war mir nicht mal sicher, ob ich noch zu euch fahren konnte. Aber dann erinnerte ich mich an das Frühjahr und dass es nicht gut gewesen war, euch so lange allein zu lassen. Nach vielen Überlegungen und einer sehr eingeschränkten Woche davor, fuhren wir zu euch.

Ich wollte dir und Papa möglichst viel Arbeit abnehmen. Ich bin wirklich keine perfekte Hausfrau. Der Haushalt ist mir so ziemlich egal, ich mag es aufgeräumt und sauber, aber picobello – wie Papa es manchmal sagt – das ist es bei mir nicht. Aber wenn ich zu euch komme, sehe ich sofort die Krümel unterm Tisch und die Wäsche, die sich da im Korb sammelt und das Altglas, das schon beim letzten Besuch da stand. Ich möchte sofort anfangen zu helfen und lege los. „Peggy, du musst das jetzt doch nicht machen!“, sagt Papa genervt. Und ich antworte genervt: “Ich will euch doch helfen.”

Und du wanderst zwischen uns her. Tut dir das weh? Spürst du die schlechte Stimmung? Manchmal diskutieren wir hin und her und ich mit meiner Ungeduld bin vermutlich Schuld daran. Vielleicht ist es mein schlechtes Gewissen, das da vieles gut machen möchte, weil ich jetzt ein paar Wochen nicht bei euch war. “Du musst deinen Eltern mehr helfen”, diesen Vorwurf habe ich schon bekommen – und er hat mich sehr getroffen. Weil auch ich insgeheim von mir erwarte, dass ich viel mehr helfen müsste.

Bin ich eine gute Tochter?

Liebe Mama, ich habe schon so oft gedacht, dass ich keine gute Tochter bin. Es hat viele Gespräche – mit anderen und mit mir – gebraucht, bis ich verstanden habe, dass ich gar nicht die perfekte Tochter sein kann, die ich in meiner Idealvorstellung gerne wäre. Denn ich bin ich. Ich bin ja so viel mehr, ich bin eine Mutter von drei Kindern und ich habe ein eigenes Leben. Ich fühle mich oft zerrissen – und versuche mit diesem Gefühl umzugehen.

Jedes Mal, wenn ich von euch wegfahre, habe ich ein schlechtes Gewissen. Ich fühle mich, als würde ich euch allein lassen, als dürfte ich nicht fahren, weil du mich brauchst und Papa mit der Pflege ganz schön viel alleine schultern muss. Auch in dieser Woche hatte ich immer mal wieder dieses schlechte Gewissen. Ich habe für euch gekocht – und Papa haben sogar meine vegetarischen Gerichte geschmeckt. Ich sollte öfter hier sein, dachte ich. Ich könnte dir was Leckeres kochen, die Kinder könnten für dich was singen, wäre das nicht gut?

Du bist wichtiger als der Haushalt, ja, das wichtigste

Ich habe auch gearbeitet, als ich bei euch war und ich hatte ein tolles Gespräch mit Petra Wieschalla (dazu in ein paar Tagen mehr). Das hat mir geholfen, mich zu entspannen und zu sehen, dass ich euch helfe. “Helfen ist nicht: Ich mache, was ich denke, was gut für dich ist. Wenn die Eltern früher gesagt haben: Kind, ich weiß, was das beste für dich ist, haben wir das gemacht? Warum sollten die Eltern es jetzt also tun? Sie sind ihr Leben lang ohne den Rat der Kinder ausgekommen”, erklärte sie. Und dann sagte sie den Satz, der mir immer noch im Ohr hängt: “Helfen ist: für den anderen da sein.

Liebe Mama, wie Recht sie doch hat! Und weißt du, wer es mir am besten gezeigt hat in dieser Woche? Meine Kinder. Als meine Töchter am Esstisch anfingen “Bunt sind schon die Wälder” zu singen und du auf einmal ein wenig geschunkelt hast. Das war ein Moment, der mich sehr berührt hat, weil durch das Singen so viel Nähe da war und mit einem Mal eine positive Stimmung durch den Raum flog.

Ich habe mir den guten Rat und meine Kinder zum Vorbild genommen und all die Krümel, Flusen, Bügelwäsche stehen gelassen. Man werde es mir nachsehen – oder auch nicht, aber es ist mir egal… Ich wollte lieber die Zeit, die ich mit dir haben darf, mit dir genießen.

Ein Spaziergang wird zum Glücksmoment

Wir sind spazieren gegangen. Früher haben wir dort Intervallläufe gemacht und sind gesprintet, jetzt waren wir sehr viel langsamer unterwegs. Sogar das Gehen strengt dich mittlerweile an. Schwellen und Treppen machen dir Angst. Aber dort oben auf der Wiese, hinter der Apfelplantage, da bist du gegangen. “Da sind Schafe, guck mal”, haben wir dir gesagt. Und du hast in die Ferne zu der Schafherde geschaut und gesagt: “Da hinten.”

Schafe
“Da hinten” – ein kurzer, aber wunderschöner Satz von Mama und Glücksmoment für uns alle

Liebe Mama, manche Dinge lernt man erst zu schätzen, wenn man sie nicht mehr hat. Was für ein alberner Spruch, dachte ich früher. Aber mittlerweile steckt da für mich viel Wahres drin. Dieser Mini-Satz “da hinten” war für mich so besonders, weil er dein einziger in dieser ganzen Woche war. Weil du fast nie mehr sprichst und ich das vermisse. Wenn wir es schaffen, dich durch schöne Momente zum Sprechen anzuregen, ist das immer ein besonderer Glücksmoment.

Herbst
Blätter von unserem Spaziergang

Danke für diese schönen Stunden. Danke fürs Erinnern, was das Wichtigste ist und worauf es ankommt. Nicht darauf, alles perfekt zu meistern und die Aufgaben eine nach der anderen abzuarbeiten, sondern manchmal ist es viel wichtiger, die Dinge liegen zu lassen und einfach zusammen zu sein. Fast hätte ich das Wichtigste vergessen – einfach Zeit mit dir zu verbingen.

Ich hoffe, dass wir dies noch häufig tun können. Ich bin mit einem weinenden Herzen gefahren, weil sich die Corona-Krise weiter zuspitzen wird und ich nicht weiß, wann ich euch das nächste Mal sehe. Aber ich bin auch mit einem lachenden Herzen gefahren, denn ich habe gespürt, dass dir und Papa mein Besuch gut getan, ja geholfen hat

Deine Peggy

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Podcastfolge von “Leben, Lieben, Pflegen”

Wie kann man helfen und unterstützen, wenn man nicht in der Nähe wohnt? Darüber sprechen Familiencoach Anja Kälin und Bloggerin Peggy Elfmann in dieser Folge von "Leben, Lieben, Pflegen – Der Podcast zu Demenz und Familie" – Es geht um das Pflegen aus der Ferne und für viele Angehörige ist das Realität. Auch Peggy kennt die Situation sehr gut. Sie lebt fast 400 Kilometer von ihrer Mutter entfernt. Trotz der Distanz möchte sie sich um ihre Mutter, die Alzheimer hat, kümmern und ihren Vater bei der Pflege unterstützen.

9 Gedanken zu „Liebe Mama, fast hätte ich das Wichtigste vergessen!“

  1. Wie schön, wie liebevoll, wie versöhnlich geschrieben, liebe Peggy.
    Ja, es sind solche Lebensabschnitte, in denen man lernen muss die kleinen Dinge als etwas ganz Großes zu schätzen – Größeres wird es nicht mehr geben. Und das macht so traurig, hilflos und oft richtig wütend.
    Aber diese Zeit des Loslassens schärft auch unsere Sinne. Und Worte oder Gesten, die man im gewohnten Alltag übersieht, werden – wieder – richtig groß. Ein kleines Wort genügt, dass die Welt ein wenig versöhnlicher wird. Und wenn es irgendwann keine Worte mehr gibt, dann sprechen die Hände, die Augen.
    In diesem Sinne wünsch dir von Herzen viel wertvolle Zeit mit vielen kleinen, großen Geschenken, liebe Peggy.

    1. Sehr schöner Beitrag! Mein Vater hat mich gestern angelacht, das sind die schönen Momente, die einen durch diese schwere Zeit helfen und auch wir sind froh, wenn er verständliche Worte sagt auf die man dann aufbauen kann:-)

      1. Wie schön! Ich wünsche Ihnen ganz viele solcher kleinen besonderen Momente. Ich halte sie fest, denn sonst passiert es leicht, dass man sich nur an die Problem erinnert – und das wäre ja schade.
        Ganz liebe Grüße!

    2. Liebe Helga, vielen Dank für deinen lieben Kommentar und deine Wünsche. Das sind Phasen im Leben, in denen man vieles in Frage stellt und umso mehr merkt, worauf es ankommt und was wirklich zählt. Meine Mama spricht nicht mehr mit Worten, aber mit Augen sehr, sehr deutlich. Dafür bin ich sehr dankbar!
      Ganz liebe Grüße!

  2. Liebe Peggy, dein Beitrag kommt zur rechten Zeit: Als ich wieder einmal genervt war über das, was alles nicht klappt – duschen, anziehen, ordentlich frühstücken, Zeitung lesen, etc. Ich weiß es ja, dass die Atmosphäre das Wichtigste ist. Gute Stimmung statt sauberem Teppich. Danke fürs nochmal-dran-Erinnern! Liebe Grüße, Birgit

    1. Liebe Birgit,
      Sehr gerne erinnere ich dich daran. Fällt mir auch nicht immer leicht, denn so ein bisschen Ordnung mag ich ja schon 🙂 Aber dann wiederum ist es für meine Mama ja total egal (und für meinen Papa auch) und sie müssen sich wohlfühlen.
      Lieben Gruß an dich und deine Mama!

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