Endlich wird es wärmer und die Sonne vertreibt das graue Winterwetter, das sich so lange breit gemacht hat. Wie gerne würde ich mit Mama einen Spaziergang machen, oben auf dem Bahndamm, da wo die Apfel- und Kirschbäume blühen. Es ist schwierig geworden und das Spazieren klappt nicht mehr, aber wir versuchen, den Frühlig zu ihr zu bringen. Liebe Mama, riechst du den Frühling?

Liebe Mama, spürst du den Frühling?
Es war noch früh am Morgen und ich bin dort auf dem Bahndamm laufen gegangen, wo wir früher häufig gemeinsam gejoggt sind. Die Sonne spitzte nicht nur zaghaft durch die Wolken, sondern sie strahlte mit großer Kraft. Ich bin an den Kirschbäumen vorbei gelaufen und dachte, dass dir das sicher sehr gefallen würde. Dass du dein Gesicht in die Sonne halten würdest, dass du tief und lang einatmen würdest, von diesem Blütenduft.
Liebe Mama, weißt du noch, vor gar nicht so langer Zeit sind wir hier spazieren gewesen? Ich habe mich daran erinnert, denn erst zwei Tage vorher habe ich den Brief, den ich damals nach einem dieser Spaziergänge geschrieben habe, vorgelesen (“Liebe Mama, fast hätte ich das Wichtigste vergessen“). Deine Schritte waren vor zwei Jahren schon sehr vorsichtig, aber es klappte doch noch ganz gut. Und jeder dieser Spaziergänge hat dir gut getan.
Nun lief ich also alleine dem Frühling entgegen. Ich war traurig und froh zugleich. Traurig, weil du diesen Weg hier nicht mehr gehen kannst. Du machst nur noch sehr wenige Schritte und die sind sehr zaghaft und ängstlich. Den langen Marsch zum Feldweg, den kannst du nicht mehr gehen. Wir haben einen Rollstuhl angeschafft, für kleine Strecken, aber für solch unwegsames Gelände ist der eher nicht geeignet.
Und doch war ich auch froh, als ich da so joggte. Denn nach all den trübgrauen Tagen war endlich der Frühling da. Ich hielt kurz an und strich mit meinen Händen über die zarten Blüten des Kirschbaumes und schnupperte an ihnen. Gibt es etwas Schöneres als den Duft des Frühlings?
Während ich mich so freute, überlegte ich, wie wir dir diesen Frühling bringen können. Du kannst vielleicht nicht mehr auf dem Bahndamm zur Kirschplantage gehen, aber wäre es nicht schön, du könntest diesen Duft riechen, diese Farben sehen und den Frühling spüren? Denn ich weiß nur zu gut, wie gerne du Blumen und die Natur im allgemeinen magst. Das war früher so – und auch, wenn du das nicht mehr mitteilen kannst, so ist es doch sicher immer noch so.
Da fiel mir das Interview mit Ulrike Kreuer ein, das ich im vergangenen Jahr geführt hatte (“Was macht einen guten Garten für Menschen mit Demenz aus?“). Ulrike Kreuer ist Landschaftsgärtnerin und legt in Pflegeeinrichtungen und Tagesstätten Gärten an. Ulrike Kreuer ist fest davon überzeugt, dass ein Garten die Lebensqualität und Lebensfreude von Menschen mit Demenz steigert. Sie sagte im Interview: “Man kann die Natur mit einfachen Dingen hineinholen. Zum Beispiel zum Besuch ins Pflegeheim eine Holunderblüte, weiche Zweige von Nadelhölzern oder Kräuter mitnehmen. Man kann seinen Angehörigen daran riechen, fühlen oder auch schmecken lassen.”

Und dann habe ich einen kleinen Zweig ab, nahm ihn in meine Hände und joggte nach Hause. Ich ließ dich daran schnuppern und legte die Blüten auf den Tisch, in der Hoffnung, dass der Duft dich in deinem Schlaf erreicht und du dich daran erfreust. Dann kam Papa von draußen hinein, mit einem frisch geschnittenen Tulpenstrauß aus dem Garten. Das Fenster war gekippt und wir hörten die Vögel zwitschern. Liebe Mama, spürst du den Frühling?
Deine Peggy