Ich bin meiner Mama immer nach, zumeist allerdings nur in Gedanken. Denn in der Realität wohne ich weit weg von ihr. Ich möchte dennoch genre helfen und für sie da sein – und frage mich, ob und wie das klappen kann. Ein Brief an meine Mama: Wie kann ich dir aus der Ferne helfen?

Liebe Mama, wie kann ich dir aus der Ferne helfen?
Ich bin dir nah – aber die meiste Zeit über nur in Gedanken. Papa und du, ihr wohnt fast 400 Kilometer entfernt von mir. Ich bin nach der Schule weggezogen und nie mehr zurückgekommen. Du warst traurig, aber auch stolz, dass ich zum Studieren wegging. Du und Papa habt mich immer bestärkt, zu reisen und mich dort niederzulassen, wo ich beruflich weiterkomme.
Dass ihr älter werdet und mal Hilfe brauchen könntet, darüber habe ich mir ehrlich gesagt nicht so viele Gedanken gemacht. Und dass meine schöne, kluge Mama mal Alzheimer bekommen würde, habe ich nicht mal ansatzweise gedacht. Ich habe mich abgenabelt, Kinder bekommen und mein Leben irgendwie eingerichtet. Mich abgenabelt von dir, wie es ganz normal ist.
Auf der Suche nach einem guten Kompromiss
Und nun? Habe ich meinen Alltag mit den Kindern und dem Beruf in München und ihr seid weit weg. In eurem Alltag bin ich selten da. Die Alzheimererkrankung ist im fortgeschrittenen Stadium und du brauchst viel Unterstützung. Ich möchte gerne für dich da sein. Immer oder zumindest viel häufiger, als ich das momentan tue. Ich möchte dir helfen, morgens beim Anziehen, beim Frühstücken und beim Spazieren gehen oder einfach neben dir auf dem Sofa sitzen und Musik hören.
Aber da sind auch meine Kinder. Sie sind mit ihrem Alltag fest eingerichtet, mit allem Drum und Dran. Und ja, da ist auch meine Arbeit, die ich so gern mache. „Sie dürfen Ihr Leben nicht einfach aufgeben“, hat mir ganz am Anfang deiner Erkrankung mal ein anderer Betroffener gesagt. Eine Kollegin sagte: „Du darfst auf keinen Fall deinen Job aufgeben.“
Viele haben mich bestärkt, mein Leben weiter zu leben. Ich habe deine Erkrankung vielleicht sogar als eine Art Herausforderung angenommen. Ich dachte, ich schaffe das. Ich werde einen guten Kompromiss finden. Ich suche ihn noch immer. Denn ich bin nicht zufrieden. Mein schlechtes Gewissen ist immer da, egal ob ich bei dir bin oder bei den Kindern.
Ich möchte dir aus der Ferne helfen
Ich bin dir nah, denn ich liebe dich, und du bist meine Mama. Daran ändert die Alzheimererkrankung nichts und auch nicht die Entfernung. Wir sind uns ähnlich, vom Aussehen und von unserer Art. Beide eher klein, die gleichen Augen, die gleiche Nase, eine ähnliche Stimme. Jeder hat immer sofort erkannt, dass ich deine Tochter bin – und das ist noch heute so.
Ich habe neulich eine sehr entfernte Verwandte getroffen, die dich schon seit Jahren nicht mehr gesehen hat und mich noch nie. Ich kannte sie nicht, aber sie wusste sofort, dass ich „Kerstins Tochter“ bin. Ich fand das schön, ein bisschen zu sein wie du, auch früher.
Denn wir waren uns immer nah. Wenn ich unglücklich war, warst du diejenige, zu der ich gegangen bin oder die ich angerufen habe. Dich habe ich bei Problemen um Rat gefragt, oft und gerne wenn es ums Kochen und Backen ging. Du hast mir immer weitergeholfen. Manchmal wollte ich deinen Rat auch nicht, aber du warst trotzdem für mich da. Das hat sich mittlerweile geändert, aber diese Vertrautheit, diese Nähe ist immer noch da. Deswegen möchte ich für dich da sein. Ich möchte dir helfen und mich mit um dich kümmern. Du sollst doch auch mit der Alzheimer-Erkrankung noch viele schöne Momente haben. Du sollst nicht einsam sein.
Immer wieder ein schlechtes Gewissen
Ich möchte auch helfen, um Papa zu helfen. Er ist immer für dich da – und er ist wunderbar zu dir. Er kümmert sich um dich, macht dabei Scherzchen und streichelt liebevoll deinen Arm. Aber das Kümmern und Pflegen ist eine 24-Stunden-Aufgabe an 7-Tagen pro Woche. Das kann keiner alleine schaffen.
Ich merke, wie es Papa anstrengt, körperlich und mental. Er jammert nicht, er macht mir keine Vorwürfe. “Ich will dich nicht belasten, du hast selber dein Leben”, sagt er manchmal. Oder: “Ich wünschte, wir könnten dir helfen.“ Ja, das wünschte ich auch. Aber ist es als Tochter nicht auch meine Aufgabe, für dich da zu sein?
Seit einer Weile geht es dir schlechter, und ich habe das Gefühl, ich müsste mehr helfen. Ich müsste häufiger da sein. Aber auf der anderen Seite ist da der Alltag mit Gymnasium, Grundschule, Kindergarten und beruflichen Terminen. Dieser Zwiespalt – bei dir sein zu wollen, aber es nicht zu können – ist so gut wie immer da. Er führt dazu, dass ich ein permanent schlechtes Gewissen habe.
Dieser Zwiespalt – bei dir sein zu wollen und bei den Kindern und ihrem Alltag mit Schule und Kindergarten zu sein – führt eigentlich nur zu einem schlechten Gewissen. Zerteilen möchte ich mich am liebsten.
Über ein perfektes Bild – und die Realität
Bevor ich diesen Blog gestartet habe, habe ich ein tolles Gespräch mit Doris Reckewell geführt. Ihre Mutter hatte auch Alzheimer und Doris Reckewell hat darüber ein Buch (“Bis ich unterm Himmel hänge”) geschrieben. Sie hat mir Mut gemacht und gesagt, dass dieses schlechte Gewissen keinen weiterbringt, sondern dass ich für mich manche Dinge einfach akzeptieren muss.
Ich habe viel darüber nachgedacht. Ich glaube, es hat sehr viel mit mir zu tun. In meinem Kopf ist das Bild einer perfekten Tochter, die alles erledigt. Die sich um alle kümmert, für alle und jeden zu 100 Prozent da ist. Ja, so eine Frau wäre ich gerne. Aber mit der Realität hat dies nichts zu tun. Und wenn ich nun mal so lebe und dort lebe, wo ich jetzt lebe, kann ich nicht diese perfekte Tochter sein. Ich könnte es auch nicht sein, wenn ich bei euch wohnen würde.
Mit Kleinigkeiten aus der Ferne helfen
Deswegen versuche ich es seit einer Weile pragmatisch anzugehen. „Was kann ich jetzt konkret tun?” ist mein Motto. Ich schaue dabei in die Gegenwart. Ich kann die Zukunft nicht planen, keiner kennt sie. Aber ich kann besser mit dem Zwiespalt leben, wenn ich euch konkret unterstützen kann. Was kann ich aus der Ferne tun? Ich schaue auch mehr auf mich. Was kann ich tatsächlich leisten?
Ich fahre gerade zu dir. Ich versuche, dich häufiger zu besuchen. Denn ich glaube, am besten helfen kann ich dir noch immer, wenn ich dich in den Arm nehmen kann, dich anlächle, mit dir Musik höre und Papa mit allem unterstütze. Es ist gut und ich kann dir helfen. Aber ich bin nun mal nicht jeden Tag da. In zwei Tagen schon bin ich wieder bei meinen Kindern und kümmere mich um Kindergarten, Schule, Familien-Alltag.
Aber ich habe gemerkt, dass ich euch aus der Ferne mit ein paar Dingen helfen kann: Hilfsangebote suchen und in Gang bringen, mich mit dem Thema Alzheimer beschäftigen, mich um Praktisches wie Kleidung, Schuhe, Geschenke kümmern. Es sind Kleinigkeiten und sie helfen hoffentlich etwas.
Das Wichtigste ist aber: Aus der Ferne kann ich für Papa da sein. Früher habe ich mit ihm nie so persönlich gesprochen, das hat sich sehr geändert. Heute telefonieren wir und ich frage: „Wie geht es Mama?“ und ein wenig später unbedingt: „Und wie geht es dir?“ Er soll spüren und wissen, dass er nicht alleine ist und dass ich, wenn ihr mich braucht, ich dann auch in eurer Nähe bin.
Deine Peggy

Fotos: Peggy Elfmann
Meine Mutter hat auch Alzheimer, aber das Thema kommt in meinem blog nicht wirklich vor. Ich sehe aber, dass mir deine Texte sehr gut gefallen, so werde ich sie regelmäßig lesen.mit herzlichen Grüßen