Das Thema der Demenzmoment-Blogparade im Oktober ist Abschied. Es fällt mir schwer, einen Moment des Abschieds zu benennen – und das liegt nicht daran, dass es keine Abschiede gab und gibt. Im Laufe von Mamas Alzheimererkrankung sind ziemlich viele Dinge verschwunden, aber das meiste schleicht sich davon und es gibt kaum Gelegenheiten, etwas zu verabschieden. Ein Moment des Abschieds war unser letzter gemeinsamer Lauf. Ich erinnere mich gut an diesen besonderen Abschiedsmoment, in dem ich etwas Trauer fühlte, vor allem aber Dankbarkeit.

Liebe Mama, danke für den letzten Lauf!
Im Laufe der vergangenen zehn Jahre haben wir von vielen Dingen Abschied genommen, aber wir konnten uns nur selten davon verabschieden. Oft sind die Dinge so davon geschlichen. Kaum sichtbar, immer ein wenig mehr und irgendwann habe ich mit Trauer festgestellt, dass es weg ist und nie wieder kommen wird. So wie mit deinem Sprechen. Ich vermisse deine Stimme und ich vermisse es, mit dir erzählen zu können. Deshalb auch all die Briefe hier, die ich dir schreibe, weil telefonieren und unterhalten nicht mehr funktioniert.
Ich wünsche mir oft, ich könnte mich von den Dingen verabschieden, weil ich mir vorstelle, es wäre dann einfacher und weniger traurig. Keine Ahnung, ob das stimmt oder nur eine dieser Illusionen ist. Denn ich bin mir sicher, dass es keine leichten Abschiede wären. Ich kann nicht gut loslassen… Mein Herz wäre vielleicht genauso schwer. Allerdings weiß ich auch, dass ein richtiger Abschied auch irgendwie schön sein kann.
Liebe Mama, erinnerst du dich an unseren letzten gemeinsamen Lauf? Das war ein Abschiedsmoment, den ich als solchen ganz bewusst wahrgenommen habe – und den ich als Moment der Dankbarkeit abgespeichert habe.
Zusammen laufen – Zeit nur für uns
Es war vor vier Jahren, im Sommer. Ich war mit meiner Familie bei euch und wir waren ein letztes Mal zusammen laufen. Du und ich, wir sind beide mit dem Laufen groß geworden. Du hast den Sport sogar zu deinem Beruf gemacht und bist Sportlehrerin geworden. Ich glaube, es war erst nach meiner Zeit im Verein, dass wir angefangen haben, zusammen joggen zu gehen. Es war nicht regelmäßig, aber wenn immer es möglich war, sind wir gemeinsam gelaufen. Sehr gerne denke ich an den Halbmarathon, den wir zusammen gemeistert haben.

Am liebsten bin ich ich mit dir auf dem Bahndamm bei uns im Dorf gelaufen. So auch an diesem Tag vor vier Jahren. Meine jüngste Tochter war noch klein und ich hatte seit der Schwangerschaft kaum Sport gemacht. Das Laufen fehlte mir. Laufen ist für mich wie Meditation, nein, eigentlich ist es besser. Wenn ich laufe, komme ich in meinem ganzen Körper an und kann mich gleichzeitig lösen. An diesem Tag spürte ich solche Sehnsucht danach, dass ich unbedingt laufen gehen wollte.
Ich hatte auch den Wunsch, ein bisschen exklusive Zeit mit dir zu verbringen. Diese Gelegenheit hatten wir nur selten, aber ich genoss es jedes Mal sehr (und genieße es noch immer). Ich fragte dich also, ob du mit mir laufen kommst und du sagtest Ja. Ich wusste, dass du schon länger nicht mehr laufen gewesen warst. Es war für dich anstrengend geworden. Und es war auch schwierig, weil Papa dich nicht mehr begleiten konnte und alleine fühltest du dich unsicher. Papa und du, ihr habt stattdessen viele Wanderungen und Spaziergänge gemacht – und das war okay.
Ein letzter Lauf auf unserem Bahndamm
Aber ich wollte gerne probieren, noch einmal mit dir zu laufen. Denn ich spürte auch, dass du oft unruhig warst. Ich dachte, dass das Laufen gegen deine Bewegungsunruhe helfen könnte und ob du das Laufen nicht vielleicht doch vermisst. Wir suchten gemeinsam deine Laufsachen, die du schon länger nicht mehr getragen hattest und gingen nach unten in den Flur.
Wie nebenbei sagte ich Papa, dass du und ich eine Runde laufen gehen würden. Ich erinnere mich an seinen skeptischen Blick. “Wir probieren es einfach”, erklärte ich ihm in meinem naiven Optimismus. Und dann rannten wir los. Ich bin jemand, der gerne schnell losläuft, das war schon immer so, und ich möchte gerne das schaffen, was ich mir vorgenommen habe. Durch meine Kinder habe ich gelernt, auch anders an das Laufen heranzugehen. Wenn sie neben mir Laufrad oder Fahrrad gefahren sind, musste ich manches Mal von meinem Laufpensum Abstriche machen – und es fiel mir nicht leicht.
Bei unserem letzten Lauf wurde mir schon nach ein paar Metern klar, dass wir auf keinen Fall die ganze Runde schaffen würden. Ich hatte wie immer mein Handy mit der Lauf-App dabei, aber die Zeit darauf spielte schnell keine Rolle mehr. Ich spürte, dass es bei unserem Lauf um etwas ganz Anderes geht: ums Abschiednehmen und Zusammensein.

Es war ein Loslassen, mit viel Dankbarkeit
Wir sind im Schneckentempo gerannt und nach gerade einmal anderthalb Kilometern haben wir angehalten. Du hast so heftig geatmet, dass ich Angst hatte, dich zu überfordern. Wir sind dann den Weg gemütlich zurückgegangen. Ich hatte mein geplantes Laufpensum nicht geschafft und war weit entfernt von diesem Runner’s High, aber ich war dennoch sehr zufrieden.
Ich wusste, dass unsere gemeinsamen Mutter-Tochter-Läufe vorbei sind und wir nie wieder zusammen laufen würden. Liebe Mama, hast du es auch gefühlt?
Ja, ich war traurig, aber ich war auch glücklich. Dass du und ich noch einmal laufen waren. Zu merken, dass das Joggen für dich zu anstrengend war, hat den Abschied sicher erleichtert. Gleichzeitig war da auch so etwas wie ein Neuanfang. Ich wusste, dass dir das Spazierengehen große Freude bereitet, also würden wir künftig spazieren gehen. Vielleicht war es gar kein Abschied, sondern einfach eine Veränderung?
Und noch ein Gedanke half mir, diesen Abschied gut zu nehmen: Immer, wenn ich laufe, bist du ein wenig bei mir. Weil du mir das Laufen für mein Leben mitgegeben hast, für mich und mein Leben.
Danke, meine liebe Mama!
Deine Peggy
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Dieser Beitrag macht mit bei der #demenzmoment-Blogparade. Hier findet ihr noch weitere Beiträge zum Thema “Abschied”

Folge 8: Immer wieder Abschied nehmen – Leben, Lieben, Pflegen – Der Podcast zu Demenz und Familie
Ein Gedanke zu „Liebe Mama, danke für den letzten Lauf!“