Darf ich das überhaupt? Mich wegen der Alzheimer-Erkrankung meiner Mama schämen? Normalerweise kann ich mich gut auf meine Mama einlassen und bin entspannt, aber hin und wieder finde ich mich in Situationen, in denen ich mich schäme. Es sind Momente, die mich fast überfordern und in denen ich mit meinen Gefühlen alleine bin. Warum nur? Schäme ich mich wirklich wegen dir, meine liebe Mama, oder sind es nicht vor allem meine Erwartungen und Vorstellungen, die mich beschämen? Eines habe ich gelernt: Dieses Schamgefühl zu verstecken, macht es meist nicht besser. Was mir hilft, ist zu priorisieren und auf das zu schauen, was wirklich zählt.

Liebe Mama, manchmal schäme ich mich.
Ich schäme mich wegen dir. Wegen deinem Alzheimer. Oder doch wegen mir und meinen Erwartungen?
Es sind meist Situationen in der Öffentlichkeit. Wie neulich als wir durchs Dorf spazieren gegangen sind. Du hattest ziemlich strubbelige Haare, trugst eine Jogginghose und alte Schlappen. Als wir uns auf den Weg gemacht hatten, fand ich alles wunderbar. Denn ich hatte mich so gefreut, dass ich nur mit dir etwas machen kann. Diese Zeit zu zweit ist sehr rar geworden, denn meist ist Papa da, der sich so sehr um dich sorgt und kümmert, dass er dich fast gar nicht mehr loslassen kann. Ich genoss die exklusive Mutter-Tochter-Zeit.
Wir gingen also los und alles war in Ordnung, deine Klamotten und meine Klamotten, das spielte keine Rolle. Doch dann, nach dem zweiten Haus flog dieser nervige Gedanke in meinen Kopf und nagte an mir: ‘Was werden wohl die Nachbarn sagen, was die Menschen, denen wir begegnen, wenn sie dich mit deinen ungewaschenen Haaren und der Jogginghose sehen?’ Und ich schämte mich, wegen dir.
Scham entsteht durch den Vergleich vom Sein und Sollen
Wir gingen unsere Runde – und kein Mensch sagte irgendetwas. Niemand zeigte auf uns oder murmelte Vorwürfe. Was da passierte, spielte sich alles nur in meinem Kopf ab – und doch beschämte es mich. Mit Anja habe ich in der Podcast-Folge 3 von “Leben, Lieben, Pflegen” über dieses starke Gefühl der Scham gesprochen. Und auch sie hat von ähnlichen Erlebnissen berichtet, als sie sich für ihre Mutter und deren Aussehen geschämt hat. “Bei Scham geht es ganz viel um den Abgleich, wie etwas sein soll und wie es tatsächlich ist”, hat sie erklärt.
Und ich habe mich an unseren Spaziergang erinnert. Da hatte ich zum einen meine Mama von früher im Kopf. Die Mama, die jeden Tag Haare gewaschen und sich gepflegt hat, die immer schick gekleidet war und eine Jogginghose maximal mal zum Joggen trug. Und meine Erziehung kam wohl durch. Zu Hause war und ist es für mich okay bequeme Kleidung zu tragen, aber nach draußen ging und geht man nur in “ordentlichen Sachen”. So ein Glaubenssatz aus meiner Kindheit, der mir da richtig klar wurde.
Dieses Schamgefühl vermieste mir fast den ganzen Spaziergang. Doch als ich so beschämt war, versuchte ich zu reflektieren und beschloss für mich: “Ist doch egal, wie Mama aussieht, solange es ihr gut geht und sie sie wohlfühlt.” Und ich schaute dich an und sah, dass es dir gut geht. Ich gebe es zu, ich habe dieses ideale Bild nicht ganz vergessen können, aber ich konnte es in den Hintergrund drängen und ich konnte fröhlich neben dir gehen.
Schämen durch die Alzheimer-Diagnose
Ich dachte damals aber auch an dich, wie es dir nach der Diagnose ergangen sein muss. Und wie in all den Momenten, als du noch sehr deutlich gespürt hast, dass du den Normen und Idealen unserer Gesellschaft nicht mehr entsprichst und dich geschämt hast. Du hast nicht viel darüber gesprochen und ich habe kaum nachgefragt. Aber ich weiß, dass du anfangs froh warst, deinen Kollegen oder Schülern nicht zu begegnen, weil du dich geschämt hast.
Dabei lief doch auch ein Kopfkino bei dir ab. Dieses Bild vom Ideal und von der Realität wichen mit der Diagnose Alzheimer-Demenz voneinander ab und das machte dir Angst. Wem würde das auch keine Angst machen? Angst, von anderen abgelehnt zu werden, Angst, aus dem Rahmen zu fallen und Angst, sich selber zu verlieren.
Angst vor der Bewertung von anderen
In den vergangenen Jahrzehnten hat sich in unserer Gesellschaft viel verändert, wir sind offener geworden, sprechen mehr über Krankheiten und Psyche, aber dennoch fürchten wir noch immer eine Bewertung. Früher wurden Menschen mit Demenz als “krank im Kopf” oder “verwirrte Alte” bezeichnet, das hat sich verändert. Aber auch heute noch wird oft flapsig oder auch stigmatisierend über Menschen mit Demenz gesprochen. Und wer die Diagnose erhält, für den ist es ein Schicksalsschlag, weil sie große Ängste auslöst. Scham trifft uns tief.
Liebe Mama, ich wünschte, ich hätte dich früher mal darauf angesprochen. So hast du auch oft versucht, dir deine Gefühle nicht anmerken zu lassen. Du wolltest das Gefühl der Scham umgehen – und vielleicht wolltest du auch umgehen, dass ich mich wegen deiner Alzheimer-Krankheit schäme. Aber die Traurigkeit und die Anfälle, in denen du weinend im Flur standest, waren dann doch ein deutlichger Gradmesser im Alltag, dass du dich nicht wohlfühlst. Ich wünschte, ich hätte schon so viel gewusst wie heute und hätte dich besser unterstützen können. Ich wünschte, ich hätte viel früher mit anderen darüber gesprochen, denn das Reden und Austauschen hat mir die Scham genommen.
Scham und der Wunsch nach Perfektionismus
Mir ist klar geworden, dass es bei dem Spaziergang gar nicht um dich ging. Dir ging es gut, dir waren deine Haare und deine Kleidung egal. Und ganz ehrlich: Eigentlich ist es das ja auch. Ich schämte mich, weil ich dachte, dass die Nachbarn und Bekannten denken könnten, ich sei keine gute Tochter. Ich hadere so oft damit, nicht perfekt zu sein und in diesem Moment hatte ich in meiner Idealvorstellung versagt. Die perfekte Frau schafft alles – und als gute Tochter hätte ich es doch wenigstens schaffen können, dich ordentlich zu kleiden. “Scham ist für Frauen dieses Netz an unerreichbaren, widersprüchlichen, konkurrierenden Erwartungen, wer wir sein sollten”, sagte die Sozialpsychologin Dr. Brené Brown.
Liebe Mama, so rückblickend war diese Situation eigentlich sehr lehrreich. Denn ich habe dadurch gelernt, dass ich nicht perfekt sein muss, dass es völlig okay ist, wenn ich dich so lasse wie du bist, weil du dich so wohlfühlst. Das ist diese Freiheit, die du jetzt in der Demenz lebst und um die ich dich manchmal beneide. Ich muss gar nicht perfekt sein und mache es trotzdem gut. Denn dir ging es ja immer gut.
Schämen kann also auch gut sein.
Deine Peggy
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“Leben, Lieben, Pflegen – Der Podcast zu Demenz und Familie”
In Folge 3 des Podcasts “Leben, Lieben, Pflegen” von Desideria Care sprechen Anja Kälin und ich darüber, warum Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen Scham empfinden, warum Schamgefühl sehr stark ist und wie man damit umgehen kann. Natürlich geben Anja und ich Einblicke in unsere eigenen Erfahrungen. Weitere Podcast-Folgen gibt auf Spotify, iTunes, bei Podigee oder direkt auf www.lebenliebenpflegen.de

Ein sehr eindrücklicher Blog. Alzheimer ist für mich eine der schlimmsten Krankheiten, weil sie das Wesen verändert. Ich kann allen, die mit Alzheimer-Kranken zu tun haben nur unendlich viel Geduld und Kraft wünschen.
Danke! Ja, Geduld und Kraft sind wichtig. Das wünsche ich dir auch 💜