Ich schreibe hier Briefe an meine Mama – und es wäre so schön, wenn sie diese Briefe lesen und darauf antworten könnte. Unser Miteinander, unsere Kommunikation haben sich in den vergangenen Jahren verändert. Die Briefe helfen mir zugleich, Mama zu behalten und das Neue anzunehmen. Das Briefeschreiben ist für mich wichtig geworden. Neulich habe ich gemerkt, dass es schon immer wichtig war – für Mama und mich. Als ich aufgeräumt habe, habe ich die Briefe wiederentdeckt, die Mama mir vor vielen Jahren geschickt hat und ich habe gedacht: Liebe Mama, vielen Dank für deine Briefe!

Liebe Mama, vielen Dank für deine Briefe!
Es war vor ein paar Tagen erst, als ich in meinem alten Kinderzimmer aufgeräumt habe. In den vergangenen Wochen haben wir so oft über einen Umzug von dir und Papa gesprochen. Nun bleibt zwar (erstmal) alles beim Alten, aber irgendwie hatte ich das Bedürfnis, auszusortieren und Dinge wegzuwerfen, die ich schon lange nicht mehr benötige. Vielleicht wollte ich für euch mehr Ordnung schaffen, vielleicht auch einfach mehr Klarheit für mich. In alten Unterlagen, Briefen und Büchern blättern und sie sortieren, erdet mich jedes Mal wieder.
Mir ging es nicht gut. Die aktuelle Situation ist schwer für mich, denn ich fühle mich mitunter hilflos und oft traurig. Ich kann nicht richtig helfen, weil Papa sich vor großen Veränderungen scheut und lieber alles beim Alten belässt. Und zugegeben, im Alltag mit Tagespflege, Pflegedienst und Familie funktioniert es doch ausreichend gut. Also, heißt es für mich oft aushalten. Aber diese Frage, die uns seit deiner Alzheimerdiagnose begleitet, drängt sich immer wieder in den Vordergrund: Wie geht es nun weiter? Das hat Papa damals gefragt. Das wolltest du wissen. Darauf wollte ich gerne eine Antwort. Und jetzt frage ich mich so oft: Wie geht es nun weiter?
Immer wieder warten neue Veränderungen und da stehen Entscheidungen im Raum, die ich nicht überblicken kann. Ich bin unsicher, welche Option die richtige ist. Manche Lösungen erscheinen von außen betrachtet als gut – und doch fühlen sie sich irgendwie falsch an. Da kommen Erinnerungen hoch und Erwartungen werden sichtbar (vor allem von mir an mich) und machen alles nur noch schwerer. Dieses Loslassen und Abschiednehmen ist so verdammt schwer, und ich bin so schlecht darin.
Liebe Mama, ich habe in den vergangenen Wochen so oft gedacht, dass du fehlst. Dass du fehlst, weil du dich mit Veränderungen leichter tun würdest als Papa. Du fehlst auch, weil Papa große Dinge ohne dich entscheiden muss und doch für dich (und ihn). Ich würde mich gerne mit dir unterhalten, dich anrufen. Wir haben das seit Jahren nicht mehr getan und doch fühlt es sich an wie gestern – und fehlt einfach.
In all diesem emotionalen Durcheinander fing ich an zu sortieren, weil ich mich dabei ein wenig neu ordnen kann – und auch die traurig-schweren Gedanken ein neues Zuhause finden können. Ich begann mit meiner blauen Kommode. In der unteren Schublade lagen jede Menge Briefe. Ich griff in den Karton mit dem Blumendekor und entdeckte zwei Stapel säuberlich zusammen gebundener Briefe. Sie waren von dir.
Liebe Mama, habe ich dir je so richtig für diese Briefe gedankt? Ich vermute nicht. Es ist wie mit so vielen Dingen, man nimmt sie für selbstverständlich. Und erst im Nachhinein merken wir, wie besonders sie waren. Das waren vor allem die Briefe, die du mir nach Amerika geschickt hast, manche auch nach Äthiopien. Damals war die Kommunikation noch eine andere, ohne Internet und Smartphones und auch du und ich konnten uns anders austauschen. Wir haben selten telefoniert – es war auch einfach teuer –, dafür haben wir einander Briefe geschrieben.
Als ich in den USA gelebt habe, hast du mir fast jede Woche einen Brief geschrieben. Du hast davon berichtet, was Zuhause im Dorf passiert, wie es meiner Katze geht, was du, Papa und Kai unternehmt und was du in deinem Alltag als Lehrerin erlebst. Ich hatte auch traurige und einsame Phasen in diesem Jahr, vor allem nach den ersten zwei Monaten. Du hast mir Mut gemacht und hast so begeistert auf meine Schilderungen und Erlebnisse reagiert, das hat mich immer wieder motiviert. Du hast mir Mut gemacht, meinen Weg zu gehen und nicht zu zaudern.
Liebe Mama, ich wünschte, du könntest meine Briefe jetzt so lesen, wie ich deine Briefe damals lesen konnte. Ich wünschte, du könntest davon lesen, wie ich auch durch deine Demenz gelernt habe, genauer hinzuschauen und wie sehr ich die kleinen Dinge wertschätze. Ich möchte, dass du weißt, dass ich dich so gut es geht unterstütze. In den vergangenen Wochen musste ich einsehen, dass da viele Grenzen sind und ich nicht dieses Idealbild einer perfekten Tochter erfüllen kann.
Du kannst meine Briefe nicht mehr lesen – und doch fühlt es sich so an, als ob sie bei dir ankommen. Vielleicht, weil ich das, was ich schreibe, auch auf andere Art und Weise zu dir trage. Ich hoffe, du spürst, wie lieb ich dich habe.
Meine liebe Mama, ich danke dir für deine Briefe! Und für noch viel mehr!
Deine Peggy

Liebe Peggy,
und wieder einmal schreibst Du so schön und triffst den Nagel auf den Kopf. Mir geht es ähnlich wie Dir. Mein Vater tut sich sehr schwer mit Veränderungen und es bleibt alles an mir hängen. Das kostet manchmal ganz schön viel Kraft und Energie. Und ich wünsche mir auch sehr oft, ich könnte meine Mama um Rat fragen, was aber leider nicht geht, da sie auch schwer dement ist.
Hast Du Dir denn auch schon mal Gedanken darüber gemacht, dass wir eigentlich auch priviligiert sind? Wir können uns langsam von dem geliebten Menschen verabschieden. Ja, ich weiß, das hört sich grotesk an, und ich kann das nicht so gut ausdrücken, wie Du, aber mit jeder Phase, in der sich der Zustand verändert, können wir ein bisschen mehr Abschied nehmen und loslassen (üben).
Und ich bin mir sicher, dass Deine Mutter spürt, dass Du da bist und nur das beste für sie willst. Das Idealbild einer perfekten Tochter, wie Du es schreibst, ist doch bestimmt überwiegend in Dir, oder? Ich kann mir vorstellen, für Deine Mutter bist Du die perfekte Tochter, einfach in dem Du für sie da bist.
Ich wünsche Dir weiterhin viel Kraft und alles Liebe und Gute und ich danke Dir ganz herzlich für diesen Blog.
Ganz liebe Grüße
Marion
Liebe Marion,
vielen Dank für deine Antwort. Ja, das klingt, als wären wir in einer ähnlichen Lage.
Vielen Dank für deinen Gedankenanstoß. Du hast Recht, irgendwie sind wir auch privilegiert. Wir haben den Menschen, den wir lieben, noch lange Zeit um uns und müssen nicht plötzlich oder in einer Notsituation Abschied nehmen. In vielen Fällen (nicht immer) lässt die Demenz die Möglichkeit viele gute Jahre zu verbringen. Bei uns sind es nun schon elf Jahre, die Mama mit der Diagnose lebt. NIe hätte ich das gedacht und nie hätte ich gedacht, dass da so viele schöne Moment mitschwingen und sie jetzt meist in einer sehr zufriedenen und in sich ruhenden Phase ist. Das hat etwas sehr Schönes, dieser Gedanke! 💜💜💜
Danke für das Teilen!
Ganz liebe Grüße, Peggy