Viele Ratgeber und Bücher wenden sich an Angehörige von Menschen mit Demenz. Sie können hilfreich sein, um Wissen zu erlangen. Nun haben die beiden Experten Peter Wißmann und Christina Pletzer ein neues Buch herausgebracht, das mehr als ein Ratgeber sein möchte. Es ist zugleich ein Arbeitsbuch und lädt ein, die Perspektiven zu hinterfragen. Ihr Buch ist in engem Austausch mit Betroffenen und Angehörigen entstanden und richtet sich an beide. Peters und Christinas Rat lautet: “Seid euch bewusst, dass ihr nur gemeinsam das Leben mit Beeinträchtigungen meistern könnt! Seid bereit, euch auf Augenhöhe zu begegnen und offen über die jeweiligen Ängste, Befürchtungen und Erwartungen aneinander zu sprechen.” Im Interview geben sie weitere Einblicke.

Immer wieder interviewe ich Menschen, die sich für Menschen mit Demenz engagieren. Alle Interviews findet ihr in der Rubrik “Expert:innen-Gespräche”. Hier findet ihr ein Interview mit Christina Pletzer und Peter Wißmann über ihr neues Buch “Das Leben meistsern mit Vergesslichkeit, ‘Demenz’ & Co”, das sie herausgebracht haben.
Christina und Peter führen das „Team WaL – Wachstum ab der Lebensmitte“ in Innsbruck. Christina ist Psychologin mit Schwerpunkt Gerontopsychologie. Peter hat lange den Demenz Support Stuttgart sowie das Demenz Magazin geleitet. Er hat mehrere Bücher zum Thema Demenz veröffentlicht, untere anderem mit Beni Steinauer und Rolf Könemann „Herausforderung angenommen“.
Was ist für euch das Besondere an diesem Buch?
Peter: Es gibt viele Bücher für Angehörige, aber kaum welche für die betroffenen Personen und schon gar keine, die sich an beide wenden. Genau das tun wir jedoch mit unserem Ratgeber. Die Herausforderung von Vergesslichkeit & Co. oder einer ‚Demenzdiagnose‘ kann nur gemeinsam gemeistert werden. Der Ratgeber ist eine Art Arbeitsbuch für Betroffene und Zugehörige. Zugehörige, weil es ja nicht immer nur die Angehörigen sein müssen, sondern auch Freunde oder andere nahestehende Personen sein können. Alle wichtigen Fragen werden im Buch aus beiden Perspektiven durchleuchtet – aus der Betroffenen- und aus der Zugehörigenperspektive.
Christina: Der Ratgeber basiert nicht nur auf der langjährigen beruflichen Erfahrung von uns beiden Autorinnen. Zahlreiche Personen mit Vergesslichkeit & Co. sowie Zugehörige haben aktiv an ihm mitgewirkt und die Erfahrung vieler weiterer betroffener Personen und Familien sind in ihn eingeflossen. Hier treffen sich also berufliche Kompetenz und die Kompetenz von Expertinnen in eigener Sache.
Auf dem Cover steht „Mehr als ein Ratgeber“. Was erwartet die Lesenden?
Peter: Es ist kein klassischer Ratgeber, der einfach kluge Ratschläge enthält, stattdessen bietet er neben Informationen und vielen Praxisbeispielen vor allem immer wieder Impulse zum (eigenen) Nachdenken und Hinterfragen sowie für Klärungsprozesse, aus denen schließlich Handlungsschritte entstehen können. Die Leserinnen und Leser sind zur aktiven Mitarbeit aufgefordert. Ihr Leben mit kognitiven Einschränkungen meistern können nur sie selbst. Aber der Ratgeber kann ihnen auf diesem Weg entscheidende Hilfestellungen leisten.
Christina: Er ist „Mehr als ein Ratgeber“, weil er neben dem Buch zwei weitere Elemente enthält: die Wissensschatzkammer und die Austauschtreffen. Alle Leser*innen haben Zugriff auf eine digitale Wissensschatzkammer. Diese beinhaltet zum einen vertiefende Information zu Themen, die im Ratgeber behandelt werden. Und es gibt eine Reihe von Arbeitshilfen für verschiedene Situationen und Aufgaben – von der Erfassung der eigenen Stärken bis hin zur Vorbereitung auf wichtige Gespräche, zum Beispiel mit professionellen Unterstützern. Informationsblätter und Arbeitshilfen können jederzeit heruntergeladen und verwendet werden.
Peter: Alle Leser*innen des Ratgebers können an digitalen Austauschtreffen teilnehmen. Hier kann man sich informieren, vor allem aber andere betroffene Personen und Familien kennenlernen und voneinander lernen. Die Austauschtreffen wird es für Betroffene und Angehörige sowie für professionelle Helferinnen geben.
Für wen habt ihr das Buch geschrieben?
Christina: Für Menschen, die in irgendeiner Form mit Vergesslichkeit & Co. leben, also mit kognitiven Einschränkungen. Für Personen, die eine ‚Demenzdiagnose‘ erhalten haben und stark verunsichert sind. Für ihre Zugehörigen, also Ehepartner, Kinder, andere Familienangehörige, Freunde und andere nahestehende Personen.
Peter: Das sind zwei Zielgruppen. Aber es gibt eine weitere: professionelle Unterstützerinnen. Ihnen bietet sich die Möglichkeit, von den Erfahrungen der Expertinnen in eigener Sache zu lernen und deren Perspektive kennenzulernen. Der Ratgeber kann von Profis als ein Arbeitstool für die eigene Beratungs- und Unterstützungsarbeit genutzt werden.
Wie habt ihr Frühbetroffene einbezogen – und warum war euch dies so wichtig?
Peter: Unsere Arbeit als „Team WaL – Wachstum ab der Lebensmitte“ zeichnet sich dadurch aus, dass hier betroffene Menschen und ihre Zugehörigen aktiv mitarbeiten. Partizipation ist für uns nicht nur ein Schlagwort. Jahrzehntelang wurde nur von beruflichen Expert*innen über ‚Demenz‘ und über die Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen gesprochen. Aber was heißt: „wurde“. Meistens ist es auch heute noch so. Dabei wissen sie doch am besten, wie sich das Leben mit solchen Einschränkungen anfühlt, was ihnen als Betroffenen schadet und was ihnen nützt, was sie sich wünschen und was nicht.
Christina: Einen Ratgeber zu schreiben, in dem die Erfahrungen und Perspektiven der Expert*innen in eigener Sache keine Rolle spielen, hätte für uns keinen Sinn gemacht. Und so waren sowohl Personen mit Vergesslichkeit & Co. als auch Zugehörige aktiv einbezogen. Das merkt man dem Ratgeber durchgängig an.
Peter: Wir haben zu geplanten Themen des Buches intensive Diskussionen in unserem Freundeskreis Team WaL geführt. Der Freundeskreis setzt sich aus Expert*innen in eigener Sache zusammen. Wir haben mit Betroffenen und Zugehörigen in langen Gesprächen über ihre Erfahrungen gesprochen und ihre Meinungen zu verschiedenen Aspekten eingeholt. Wir haben aus dem Erfahrungsschatz unserer langjährigen Arbeit und Begegnung mit Betroffenen viele reale Storys und Beispiele in den Text eingebunden. Angela Pototschnigg, eine Selbstvertreterin, die mit einer Demenzdiagnose lebt, hat das Vorwort für den Ratgeber geschrieben. Das Buch ist voll von Statements, Tipps, Schilderungen und Gedanken betroffener Menschen und Zugehöriger.

Wie entscheidend ist es für Menschen mit Vergesslichkeit und Demenz, dass sie sich selbst informieren?
Peter: Viele betroffene Menschen können und wollen sich eigenständig über das informieren, was ihr Leben beeinflusst und verändert. Das ist auch gut so! Auch wenn es um Vergesslichkeit oder ‚Demenz‘ geht, werden mündige Personen gebraucht, die nicht darauf verzichten, sich eine eigene Meinung zu bilden und die nicht einfach alles zu glauben, was ihnen von Profis gesagt wird. Deren Sicht ist naturgemäß meistens sehr eindimensional. Überhaupt regen wir im Ratgeber immer wieder dazu an, den eigenen Kopf einzuschalten und vermeintliche Gewissheiten zu hinterfragen.
Christina: Wenn sich Betroffene und Zugehörige Informationen zu Vergesslichkeit oder ‚Demenz‘ beschaffen, lauern aber auch viele Gefahren auf sie. Im Ratgeber schildern mehrere Beteiligte, wie es ihnen mit Informationen aus dem Internet, aber auch aus offiziellen Broschüren von Verbänden ergangen ist. Es mag alles gut gemeint sein, was da geschrieben und verlautbart wird, aber auf viele Ratsuchende wirkt es katastrophal. Statt informiert, fühlen sie sich verschreckt und entmutigt.
Peter: Zusammengefasst könnte man die ‚Botschaft‘ im Ratgeber daher so formulieren: Glaube nicht einfach alles, was du liest oder gesagt bekommst. Bilde dir eine eigene Meinung. Schaue kritisch auf Informationen. Tausche dich mit anderen Betroffenen aus. Suche dir Profis als Verbündete, die dir guttun und die auf Augenhöhe mit dir zusammenarbeiten.
Was braucht es, dass sie das Leben gut meistern können?
Christina: Offenheit: Nichts ignorieren, sondern der Herausforderung mutig entgegen schauen. Im Team von Betroffenem und Zugehörigen offen miteinander reden – immer wieder. Sich beiderseitig in die Perspektive des anderen versetzen. Auch nach außen offen mit der Situation umgehen – das schafft Freiräume.
Peter: Sich nicht von Begriffen oder einer Diagnose beherrschen und unterkriegen lassen. Auf die eigenen Kräfte und Potenziale schauen. Hinderliche Glaubenssätze überwinden, etwa diesen: „Ich bin vergesslich oder ‚dement‘, deshalb kann ich nichts mehr!“ Stattdessen neugierig und aktiv bleiben und sich immer wieder auch auf Neues einlassen.
Christina: Den Kontakt mit anderen betroffenen Menschen suchen. Im Austausch mit ihnen Kraft und Mut tanken und sich den Herausforderungen von Vergesslichkeit & Co. stellen.
Peter: Sich nicht auf die Rollen „Kranker“ und „Pflegender“ fixieren lassen. Selbstbewusst seine Rechte einfordern: Anerkennung, Teilhabe und Assistenz. Sich als Team verstehen und gemeinsam handeln. Und in Beziehungen immer darauf achten, dass die Beziehung erhalten bleibt – trotz aller Veränderungen.
Was habt ihr beim Schreiben dazu gelernt?
Christina: Wie wichtig es ist, nicht nur die beiden Perspektiven – die der betroffenen und die der zugehörigen Person – als gleichwertige Perspektiven anzuerkennen (was selten genug geschieht), sondern die Beteiligten auch in einen Austausch darüber zu bringen. Das versuchen wir im Ratgeber. Er zielt auf Austausch und Dialog. Die Bedürfnisse und Interessen von Betroffenen und Zugehörigen sind nicht unbedingt identisch. Aber dennoch geht kein Weg daran vorbei, sie sich gegenseitig mitzuteilen, klarzumachen und zu versuchen, gemeinsame Handlungsschritte zu entwickeln.
Peter: Von den beteiligten Expert*innen in eigener Sache konnten wir sehr viel darüber erfahren, wie es gelingen kann, sich als Team Betroffener – Zugehöriger aufzustellen und mit der Herausforderung eines Lebens mit Vergesslichkeit Co. zurechtzukommen. Dieses Wissen geben wir gerne an die Leserinnen und Leser weiter. Immer wieder wurde auch deutlich, dass viele Profis schlichtweg keine Erfahrung in der Unterstützungsarbeit mit frühbetroffenen Personen und Paaren oder Familien haben. Für sie dürfte der Ratgeber daher ein wichtiges Arbeitstool sein.
Die Illustrationen habt ihr ja auch selbst gemacht. Was war euch dabei wichtig? Bzw. Wie habt ihr sie entwickelt?
Christina: Wir beschäftigen uns seit Langem intensiv mit Bildern von Vergesslichkeit und ‚Demenz‘. Bilder – das meint zum einen Vorstellungen davon, zum anderen sind aber auch konkret Bilder im Sinne von Fotos, Zeichnungen und Grafik gemeint. Bedenkliche Vorstellungen spiegeln sich in entsprechenden bildlichen Darstellungen wider. Man denke nur an die beliebten Motive von wegfliegenden oder ausradierten Gehirnen. Aber auch an die zahlreichen Fotos, auf denen sehr alte Menschen dankbar lächeln, während eine hinter ihnen stehende Person, meist in Pflegemontur, eine fürsorgliche Hand auf ihrer Schulter ruhen lässt. Viele betroffene Menschen fühlen sich durch solche Bilder nicht angesprochen, sondern abgeschreckt. Daher war es unser Ziel, im Ratgeber eine alternative, freundliche und ansprechende Bildsprache zu verwenden.
Peter: Christina hat die komplette grafische Gestaltung des Buches geleistet und wunderschöne farbige Zeichnungen entwickelt. Eine Person, eine Frauengestalt, taucht im Text immer wieder auf und bildet eine Art roter Faden durch alle thematischen Stationen. Text und Bilder harmonieren und bringen die positive, die mutmachende und die Betroffene stärkende „Philosophie“ des Buches zum Ausdruck. Man soll, so unser Wunsch, den Ratgeber gerne in die Hand nehmen und in ihm blättern!
Welchen Rat habt ihr für An- und Zugehörige, wie können sie gut begleiten und unterstützen?
Christina: Bei uns gibt es leider die Tradition, dass im Fall von Vergesslichkeit & Co. oder einer ‚Demenzdiagnose‘ sofort eine Art Spaltung einsetzt: Der eine wird zum hilfebedürftigen Kranken erklärt und der andere – der An- oder Zugehörige – ist der Macher, der wissen muss, wo es langgeht. Damit er das weiß, gibt es für ihn Beratungsstellen, Broschüren, Schulungen und mehr. Dort lernt er, wie er mit dem ‚Demenzkranken‘ zu Hause umzugehen hat und eignet sich Stück für Stück die ‚offizielle‘, von Profis geprägte Sichtweise an. Wir glauben, dass es anders gehen sollte, und wir sehen an vielen Beispielen, dass es anders gehen kann.
Peter: Unser Rat an Zugehörige lautet daher: Seid euch bewusst, dass ihr nur gemeinsam das Leben mit Beeinträchtigungen meistern könnt! Bildet also ein Team. Seid bereit, euch auf Augenhöhe zu begegnen und offen über die jeweiligen Ängste, Befürchtungen und Erwartungen aneinander zu sprechen. Holt euch dabei gerne die Unterstützung Dritter, denn weil es hier um schwierige Themen geht, braucht es oft eine neutrale Person. Versucht euch in die Perspektive des Gegenübers hineinzuversetzen: Wie würde es euch in seiner Situation gehen? Beobachtet kontinuierlich, was passiert: Schleichen sich in die Beziehung Verhaltensweisen von ungewollter Bevormundung oder Überfürsorge ein? Nehmt die Person mit Vergesslichkeit & Co. also als Partner wahr und nicht als ‚Pflegefall‘ oder als ‚den Demenzkranken‘.
Christina: Offenheit, Augenhöhe und Dialog sind übrigens keine Einbahnstraße! Sie sind vonseiten der betroffenen Person ebenso einzufordern, wie von dem Zugehörigen. Viele Menschen denken, das ginge gar nicht. Aber die Praxis beweist das Gegenteil.
Peter: Lasst euch nicht von anderen überstülpen, wie ihr Vergesslichkeit, ‚Demenz‘ und vor allem wie ihr die betroffenen Personen zu sehen habt. Erlaubt euch einen kritischen Blick und einen eigenen Kopf. Und immer wieder: Lernt von anderen Menschen, die in einer vergleichbaren Situation wie ihr seid und die es geschafft haben, ihr Leben mit kognitiver Beeinträchtigung zu meistern. Tretet in Kontakt zu ihnen, tauscht euch aus, knüpft Beziehungen. Das hilft mehr als noch so viele gut gemeinte Informationsblätter und Broschüren. Unser Ratgeber zeigt Wege und Beispiele auf, wie das alles gelingen kann.