Vor ein paar Wochen ist mein neues Buch herausgekommen und ich durfte im Zuge dessen ein paar Interviews geben. Ich freue mich, dass das Thema Demenz von den Redaktionen aufgenommen wird und sie darüber schreiben, aber bin doch manches Mal irritiert über die Fragen, die mir gestellt werden. Zum Beispiel: Seit wann leidet Ihre Mutter an Alzheimer? Oder: Wie lange leidet ihr Mutter schon an Alzheimer? Auf mich macht Mama selten den Eindruck, als würde sie leiden. Warum gehen andere Menschen davon aus, sie würde leiden? Oder übersehe ich da etwas? Darum geht es in meinem neuen Brief: Liebe Mama, leidest du?

Foto: Daniel Laudowicz
Liebe Mama, leidest du?
Ich habe in den vergangenen Tagen viel nachgedacht. Der Anlass waren die Fragen, die mir gestellt wurden. Vor kurzem ist mein neues Buch erschienen und ich durfte ein paar Interviews dazu geben. In den Interviews ging es nicht nur um den Ratgeber, sondern auch um deine Alzheimererkrankung und wie wir als Familie damit umgehen. Ich wurde unter anderem gefragt, wie lange du schon an Alzheimer leidest. Diese Frage höre ich häufiger und sie irritiert mich immer sehr.
Liebe Mama, leidest du?
Ich habe nicht das Gefühl, dass du leidest. Es gibt Momente, da bist du traurig, wirkst ängstlich oder verunsichert. Es gibt auch Situationen, da tut dir etwas weh, so wie vor einiger Zeit, als du diese Wunde am Bein hattest. Aber leidest du …?
Ich werde häufig gefragt, wie es dir geht. Die Frage kommt meist zögerlich und ein zaghaftes “wenn man das denn fragen darf”, wird nachgeschoben. Es wirkt ein wenig so, als hätten die Fragenden Angst vor einer Antwort. Vielleicht überraschend für mein Gegenüber, aber ich antworte sehr oft mit: “Eigentlich ganz gut.” Manchmal ernte ich erstaunte Blicke und dann erkläre ich: dass deine Alzheimererkrankung schon weiter fortgeschritten ist. Dass du bei so ziemlich allen Dingen Hilfe benötigst, auch bei vermeintlich alltäglichen und normalen Tätigkeiten wie Aufstehen und Hinsetzen, Essen und Trinken… Es ist immer mehr geworden, bei dem du Unterstützung benötigst – und doch habe ich nicht das Gefühl, als ob du leiden würdest. Eigentlich habe ich sogar das Gefühl, dass es dir gut geht.
Du sitzt tagsüber in deinem Lieblingssessel im Wohnzimmer. Um dich herum ist ein kuscheliges Lammfell und falls du anfängst zu frösteln, legt Papa dir die beige Strickdecke auf deine Beine und zieht dir das weiche Jäckchen an. Auch in der Tagespflege hast du einen Platz, an dem du entspannt sitzen kannst. Du bist überall dabei und wenn es dir zu viel wird oder du Ruhe möchtest, dann schließt du deine Augen und machst ein Nickerchen. Wenn ich bei euch bin, beobachte ich dich oft und dich umgibt eine große Ruhe.
Ich merke, wenn ich mich neben dich setze, dass auch ich ruhiger werde. Ich trete aus meinem schnellen Alltag mit den endlosen To-Do-Listen mal heraus, wenn ich wirklich neben dir sitze und mich auf dich und deine Geschwindigkeit einlasse. Du wirkst dann nie leidend, ich fühle mich eher so. Ich bin traurig, weil ich dich vermisse, als meine Mama, als Oma meiner Kinder – und auch weil ich Angst vor der Zukunft habe und unsicher bin, wie ich dir und Papa am besten helfen kann.
Wenn ich zurückdenke, an die ersten Jahre nach der Diagnose, da gab es natürlich Momente, da warst du nicht in dieser Ruhe. Du warst häufig traurig und hast geweint. Du wirktest manchmal sehr angespannt und in wenigen Momenten bist du richtig laut und aggressiv geworden. Ich erinnere mich daran und bin mir sicher, dass es dir damals nicht gut ging.
Hast du damals gelitten? Ich weiß es nicht, denn ich habe dich das nie gefragt. Ehrlich gesagt, kam mir die Frage auch gar nicht in den Sinn, aber vielleicht hatte ich einfach Angst vor der Antwort. Wir haben viel zu wenig miteinander gesprochen, wie es dir mit der Alzheimererkrankung geht. Jetzt bereue ich das manchmal, denn ich denke, es hätte dir vielleicht geholfen – und mir vielleicht auch. Für dich war der Alltag und die Routine immer wichtiger, mit den Spaziergängen und den Arbeiten im Garten.
Ich frage mich, warum das Wort “leiden” so oft in Verbindung mit Demenz gebraucht wird. Warum gehen wir davon aus, dass Menschen mit Demenz leiden? Warum herrscht noch immer solch eine Stigmatisierung? Ich möchte eine Demenzerkrankung nicht kleinreden. Menschen leiden natürlich an diversen Symptomen, die die Demenz mit sich bringen kann, aber es ist (meist) kein permanents Leiden. Es wird Zeit, dass wir nicht mehr so unbedarft Wörter benutzen und uns damit beschäftigen, wie wir gut über Demenz reden können. Ich glaube, das würde Menschen mit Demenz und ihren Familien auch helfen.
Liebe Mama, leidest du? Ich hoffe es nicht. Und falls du in bestimmten Momenten doch leidest, dann bin ich mir sicher, dass wir das erkennen und unser Bestmögliches tun, dass es dir gut geht.
Deine Peggy
In eigener Sache: Mein Blog ist kostenlos für alle – und das soll auch so bleiben. Ich möchte keine Bezahlschranke einführen und möchte auf Werbung verzichten. Dennoch stecke ich mittlerweile einen Großteil meiner Arbeit in diesen Blog. Ich möchte Angehörige unterstützen und dazu beitragen, die Öffentlichkeit über Demenz aufklären. Mit einer Spende kannst du mich mit meiner Arbeit unterstützen. DANKE an all jene, die den Blog supporten.
Liebe Peggy, das hast du wieder einmal großartig geschrieben und auf den Punkt gebracht! Du bist sicherlich mit dem was du machst, schreibst, für viele Menschen eine große Hilfe und mentaler Rückhalt. Ich wünsche dir von Herzen weiter viel Kraft und grüße dich ganz lieb. Doro
Vielen Dank, liebe Doro!
Liebe Peggy,
erst jetzt sehe ich diesen Blogeintrag von Dir, für den ich Dir sehr dankbar bin. Demenz und Leiden gehören für die meisten Menschen nicht nur sprachlich zusammen, sondern sind für sie quasi synonym. Dabei projizieren wir ja meist nur unsere eigenen Ängste hinein.
Und was heißt schon “leiden”? Geht es uns, die ohne eine solche Diagnose leben, immer nur gut? In jeder Fußgängerzone kommen mir anteilsmäßig mehr Menschen entgegen mit einem Ausdruck der Unzufriedenheit, der Mutlosigkeit und des – ja! – Leidens an ihrer Situation, als in einer gut geführten Einrichtung für Menschen mit Demenz.
Sollten Menschen mit Demenz daher nicht auch ein “Recht” haben auf Leiden in all seinen Schattierungen als Teile ihrer Lebenswirklichkeit und des Regenbogenspektrums ihrer Persönlichkeit? Liebe Grüße – Michael
Danke dir lieber Michael für deine Rückmeldung und dass du hier deine Beobachtungen und Gedanken teilst. Genau so geht’s mir auch.
Danke von Herzen für deine Formulierung, das Regenbogenspektrum… wie schön! Wenn man es mal so sieht, dann machen die dunklen, trüben Farben gleich viel weniger Angst.