Zehn Tage mit ihrer an Demenz erkrankten Oma eine Kanutour machen – Als Astrid Menzel von ihrem Plan erzählte, war so mancher skeptisch. Astrid Menzel wollte Zeit mit ihrer Oma verbringen und ihr aus der Einsamkeit helfen. Und so reifte der Plan, das alte Kanu gemeinsam in seinen Heimathafen zu paddeln und die Erlebnisse filmerisch festzuhalten. Was sie auf der Reise erlebt hat, wie sie mit Herausforderungen umgegangen ist und was ihre Oma davon mitgenommen hat, auch wenn sie die Reise vergessen hat, davon berichtet Astrid im Interview

“Blauer Himmel weiße Wolken”
Vor kurzem ist der Film “Blauer Himmel weiße Wolken” von Astrid Menzel in den Kinos angelaufen. Es ist ein Dokumentarfilm über ihre Reise mit ihrer an Demenz erkrankten Oma und viel mehr als ein Reisebericht: Astrid Menzel zeigt auf berührende Art und Weise, wie es gelingen kann, einen Menschen mit Demenz gut zu begleiten.
Auch die schweren Momente und ihre eigene Überforderung sind immer wieder Thema – und genau das macht den Film so ehrlich. Denn genau das ist der Zwiespalt, in dem viele Angehörige stecken: sich bestmöglich kümmern wollen und doch oft an die eigenen Grenzen kommen. Im Interview berichtet Astrid Menzel über ihre Erfahrungen:
Interview mit Astrid Menzel
Wie kam es dazu, dass du angefangen hast, deine Oma filmisch zu begleiten?
Ich habe Filmregie studiert und die Sommerferien bei meinen Großeltern verbracht. Zunächst ging es eher darum Opas Lebenswerk festzuhalten, weil ihm das wichtig war und ich ihm so auf eine Art beistehen konnte. Als Opa verstarb, hinterließ er ein riesiges Loch, das habe ich dann durch die Arbeit am Film, zu füllen versucht. Und seine Aufgabe: “Kümmere dich um Oma!” habe ich sehr ernst genommen, auch wenn das eigentlich sowieso selbstverständlich war.
Warum unbedingt eine Kanu-Tour? Inwieweit spielte das für deine Oma früher eine Rolle?
Das Kanu war ein Geschenk der Großeltern, als wir, meine Brüder und ich, noch klein waren. Es lag viele Jahre unbenutzt herum und als Opa verstarb, gingen auch recht zeitnah, die Großeltern väterlicherseits. Um Oma aus ihrer Einsamkeit und mir aus meiner Trauerlethargie zu helfen, kam die Idee das Kanu zurück an den “Steg der Kindheit”, im Westensee bei Kiel zu paddeln. Keiner von uns hatte bis dahin eine mehrtägige Kanutour unternommen, schon gar nicht Oma. Allerdings war sie immer ein sehr sportlicher und abenteuerlustiger Mensch, sie liebte Gesellschaft und das Reisen.
Du sagst, dass du auch darüber nachgedacht hast, deine Oma zu dir zu holen? Wie ging es dir mit den Besuchen im Pflegeheim?
Ja, ich habe tatsächlich mit dem Gedanken gespielt, so wie sicherlich viele pflegenden Angehörigen überlegen, was für die Person mit Demenz am besten sein könnte, und gleichzeitig auch was leistbar ist. Es fiel mir unheimlich schwer, Oma immer wieder “allein zu lassen”, ob im Seniorenheim oder später in der Demenz-WG. Gleichzeitig war spätestens nach der Reise klar, dass ein dauerhaftes Leben mit ihr, zur Selbstaufgabe meiner Bedürfnisse, Wünsche und Ziele geführt hätte. Ein Spagat der Gefühle, zwischen Verantwortung und Selbstverwirklichung. Die Demenz-WG, in der Nähe meiner Mutter, war dann die für uns passendste Lösung. Hier konnten meine Mutter und ich sie viel einfacher und häufiger besuchen und wir konnten sie auch besser in Tagesausflüge oder Alltagsaufgaben einbinden, ohne unsere Berufe aufgeben zu müssen.
Wie waren die Reaktionen von deinem Umfeld vor der Reise?
Oma und ich hatten schon vor der Reise ein tolles Vertrauensverhältnis, und darauf basierte ja auch die gesamte Reise. Skeptisch war die Familie nur im Hinblick der Frage, ob sich der ganze Aufwand lohnt, wo sich Oma doch sehr wahrscheinlich nicht an die Reise erinnern wird. Wie gesagt, Oma liebte es, dabei zu sein und zu Reisen und für den Fall, dass es ihr doch zuviel würde, hatten wir die Reise ja bewusst in Norddeutschland geplant. Die ersten Tage waren wir nicht weiter als eine halbe Stunde Autofahrt vom Haus meiner Eltern entfernt. Mama hätte uns abholen können, wenn es nötig gewesen wäre. Später waren es zwei bis drei Stunden Entfernung mit dem Auto. Wir haben viele Pausen eingelegt und gut für Oma gesorgt.
Was war dein Wunsch für die Reise mit deiner Oma?
Mein Wunsch war es, viel Zeit mit ihr zu verbringen. Sie mit Liebe und Aufmerksamkeit und Selbstbewusstsein vollzupumpen. Ihr neuen Lebensmut einzuhauchen und gemeinsam mit ihr unterwegs zu sein, wie wir es viele Jahre immer getan haben. Unsere Großeltern waren bei vielen Urlauben dabei, wir sind es gewohnt gewesen gemeinsam zu Reisen. Warum also damit aufhören nur weil sie anfing herumzutüddeln und Opa nicht mehr da war? Mit dem Fortschritt von Omas Demenz haben wir die Ausflüge angepasst. Sie weniger zu langen Reisen mitgenommen, und mehr Tagesausflüge gemacht. Später waren es nur noch ein bis zwei Stunden zum Spaziergang durch die Natur schieben, bis auch das nicht mehr ging, dann haben wir bei ihr im Zimmer beisammen gesessen und Schlager von Hansi Hinterseer gehört, den mochte sie sehr. Oma wippte noch manchmal mit dem Fuß dazu. Sprechen konnte sie am Ende nicht mehr.
Wie hat sich deine Beziehung zu deiner Oma während der Reise verändert?
Oma und ich sind auf der Reise nochmal ein ganzes Stück enger zusammengewachsen. Am Ende der Reise war mir zwar klar, dass unser beider Leben nicht kompatibel sind, aber auch wie schön es ist mit Oma Zeit zu verbringen, wie lieb wir uns gegenseitig haben und wieviel Spaß es auch mit ihr machen kann. Dass ihre Beschimpfungen Ausdruck ihrer Demenz sind, die natürlich auch mit einer Überforderung zu tun haben können und wie und wo ich Oma zwar Auffangen, ihre Verwirrtheit aber nicht immer Ausgleichen kann, egal wie viel Mühe ich mir gebe.
Spielte die Kamera eigentlich eine Rolle?
Die Kamera spielte keine Rolle. Der Film war zweitrangig, wenn es darum ging für Oma da zu sein. Der Film beziehungsweise das Projekt hat mich allerdings über zehn Jahre lang begleitet. Ich wollte herausfinden, worum es im Leben eigentlich geht. Ursprung dieser Frage, war das absehbare Ende meines Großvaters, was er selbst (als Mediziner) nicht müde wurde, immer wieder zu formulieren. Als er dann ging und von seinem Lebenswerk nichts mehr übrig war, außer einem materiellen Wert, da bin ich tief gefallen. Der Film und all die Fragen, die ich darin aufwerfe, und versuche zu verstehen, hat mir aus diesem Tal geholfen und kann jetzt eventuell auch anderen Menschen helfen, sich in diesem vielseitigen Prozess, von Trauer, Verantwortung und Loslassen weniger allein gelassen zu fühlen. Das ist zumindest mein Wunsch.
Mich hat die Szene in der Nacht sehr berührt. Man sieht eigentlich nichts, sondern hört nur, wie sich deine Oma unbedingt anziehen und gehen will und du anfängst zu weinen. Viele Angehörige von Menschen mit Demenz kennen solche Momente, in denen man sich hilflos fühlt. Was hat dir in dem Moment geholfen?
Ich glaube, Mut gemacht hat mir in dem Moment wenig. Für mich war diese Nacht der Wendepunkt der Reise und meiner Überzeugung. Ich habe alles versucht, damit es Oma auf der Reise gut geht, habe ihr wirklich jeden Wunsch, noch bevor sie ihn ausgesprochen hat, versucht von den Lippen abzulesen – und doch kam es zu einem dieser Ausbrüche, wo ich nicht verstehen konnte, wo sie gedanklich abgebogen war, wie ich sie wieder abholen könnte, um ihr zu helfen zu verstehen, was wir gerade machen. Mut gemacht hat mir meine Mutter am Telefon, die mich darauf hinwies, dass sie etwa drei Stunden Autofahrt benötige und eigentlich erst am nächsten Morgen kommen könnte.
Was hieß das für dich und wie habt ihr die Situation gelöst?
Es war also klar, wir müssen Oma so oder so, wieder ins Bett bekommen, ob wir die Reise nun abbrechen oder nicht. Mama hat mich auch daran erinnert, dass Oma nachdem sie geschlafen hat, wahrscheinlich alles vergessen haben würde. Was im Film sieben Minuten dauert, waren in echt etwa drei Stunden. So lange haben mein Bruder und ich gebraucht, mit Oma loszulaufen und umzudrehen, ihr das Reisetagebuch zu zeigen und sie spüren zu lassen, dass wir sie lieb haben, ihr nichts Böses wollen und alles, was ihr gerade komisch vorkommt, seinen Sinn hat. Ich habe sie dafür immer bewundert, wie bemüht sie war, die Zusammenhänge zu verstehen. Wir sind mit der Zeit sicherlich auch besser darin geworden, ihr das Wesentlichste möglichst klar und geordnet zu erzählen. Lange Sätze und Erläuterungen machten wenig Sinn, obwohl es andererseits gar nicht um den Inhalt, sondern um die Art des Gespräches ging. Oma hatte unheimlich gute “Stimmungsantennen”.
Was war die größte Überraschung auf der Reise?
Der Zuspruch, die Hilfsbereitschaft und Begeisterung all der Menschen denen wir auf der Reise begegnet sind.
Wie wichtig war es, dass dein Bruder dabei war?
Sehr wichtig. Er war der Ruhepol, mein Paddelkumpane und die nötige Unterstützung, denn Omas Betreuung hätte ich niemals alleine stemmen können.

Im Film sagst du, dass deine Oma die gesamte Kanu-Tour vergessen hat. Wie ging es ihr denn nach der Reise? Hat sie nicht doch etwas von der Reise mitgenommen?
Oma hat definitiv etwas von der Reise mitgenommen. Zwei Wochen jeden Tag an der frischen Luft, in Gesellschaft, haben sie frischer, sportlicher, optimistischer und mutiger gemacht. Oma hat vorher viel angezweifelt, nach der Reise war sie da viel sicherer. Wir haben danach häufiger etwas unternommen als vorher, immer waren wir ein gutes Team. Ich glaube wir haben beide gelernt, wie viel noch möglich ist und auch, dass wir es jede für sich, immer wieder schaffen aus der gegebenen Situation das beste zu machen. Es ist natürlich wichtig, für jeden der sich jetzt etwas Ähnliches vornehmen möchte, zu schauen, was zu der Person passt, und in welchem Stadium der Demenz sie sich befindet. Für meine Familie und Oma, war diese Kanutour damals (2016) genau das richtige.
Wie hat sich deine Sicht auf das Thema Demenz entwickelt? Was möchtest du anderen Menschen mitgeben?
Ich bin mit der Aufgabe gewachsen. Die Demenz schreitet fort und so verändert sich auch die Person, die davon betroffen ist. Im Kern bleiben diese Menschen aber ja die, die sie immer waren, mit denen wir so viele Erinnerungen teilen. Wenn man es immer schafft, sich daran zu erinnern, dann kann man auch die schwierigen Situationen meistern, vielleicht nicht augenblicklich, aber nachdem man sich von dem einen oder anderen Schreck erholt hat, dann geht es wieder.
Was hat dir geholfen?
Mir hat vor allem der Austausch mit anderen pflegenden Angehörigen und auch dem Personal sehr geholfen. Für mich ist es nur natürlich, dass wir uns später um unsere Eltern und Großeltern kümmern, nachdem sie uns groß gezogen haben. Alles im Leben ist ein Geben und Nehmen – und füreinander da sein zu können auch ein großes Geschenk. Wichtig dabei ist, dass man die Realität nicht aus den Augen verliert. Was kann man selbst leisten und was muss man abgeben, um sich selbst nicht zu überlasten. Sich das einzugestehen, ist sicher nicht immer leicht. Hilfsangebote gibt es inzwischen viele.
So mancher denkt darüber nach, ob er mit seinem an Demenz erkrankten Angehörigen noch mal eine lang ersehnte Reise machen kann. Was würdest du Angehörigen raten?
Mein Rat ist, aus heutiger Sicht, eher Tagesausflüge zu machen, also eine längere Reise. Allerdings hängt das komplett von der Person und ihren Gewohnheiten ab und natürlich von dem Stadium der Demenz. Das Feedback, das ich vom Publikum erhalte, ist für die Kanutour zweigeteilt. Personen, die selbst von Demenz betroffen sind, beklagen sich über einen gewissen Ausschluss von der Gesellschaft und wünschen sich so viel gefordert zu werden, wie es in dem jeweiligen Stadium noch möglich ist. Sie hätten gerne eine geduldige Enkelin, die mit ihnen ins Boot steigt. Pflegende Angehörige sind eher zögerlich, beharren auf einen festen Ort, und einen geregelten Tagesablauf. Für sie überwiegt die Verantwortung, für die betroffene Person immer alles richtig einschätzen zu müssen und die Angst der Überforderung. Am Ende entscheiden sie gemeinsam, was noch möglich ist und wie weit sie gehen können.
Wie habt ihr das gehandhabt?
Oma hat es zum Beispiel geliebt, im Garten zu arbeiten. Erst hat sie gemeckert, wohin wir fahren, wie lange die Autofahrt noch dauern würde (keine zehn Minuten) und hat dann stundenlang mit uns im Garten Unkraut gejähtet. Irgendwann erhöhten sich ihre Kommentare, dass ihr Rücken beim Bücken weh tat, also haben wir gemeinsam aufgehört und im Schatten ein Glas Wasser getrunken. Später haben wir viele Stunden Postkarten gebastelt und dafür Motive aus Geschenkpapier ausgeschnitten. Irgendwann hat sie nicht mehr zur Schere gegriffen, aber die Motive aufkleben ging noch, irgendwann ging auch das nicht mehr und sie hat die ausgeschnittenen Motive nur noch im Karton hin und her sortiert, wichtig war immer nur, beisammen zu sein und gemeinsam Zeit zu verbringen. Und der Rest ist gesunder Menschenverstand, wie etwa frische Luft und Bewegung sind besser als drinnen sitzen bleiben, eine haptische Aufgabe und Stimulation besser als Lethargie.
An welche Erfahrung auf der Reise möchtest du dich immer erinnern?
Daran, dass Oma so gut im Moment leben konnte. Ich plane und zerdenke auch sehr Vieles, lasse mich von meiner Angst in die Irre führen. Oma ist immer ein lebenslustiger und mutiger Mensch gewesen. Das habe ich sehr an ihr bewundert und auf eine gewisse Weise war sie es, die mir aus der Trauer und dem Verlust des Großvaters herausgeholfen hat, in dem sie mir vertraut hat und mich für sie da sein ließ. Die Stunden auf dem Wasser, in denen sie nicht müde wurde, alles um sich herum zu kommentieren, habe ich geliebt. Überhaupt ihre Begeisterungsfähigkeit für die kleinsten Dinge.
Tipp: Hier findet ihr eine Übersicht über aktuelle Filmvorführungs-Termine und Kinos, in denen der Film gezeigt wird.