In Magdeburg findet demnächst eine große Veranstaltung zum Thema Inklusion statt. Ich finde das ein wichtiges Thema, aber auch ziemlich kompliziert. Inklusion heißt für mich, jeden Menschen – mit seinen Bedürfnissen – in der Gesellschaft teilhaben zu lassen. Aber wie genau geht das? Schon im Kleinen ist das eine Herausforderung. Ich würde meine Mama gerne an allem, was wir tun, teilhaben lassen. Aber erfüllt das dann ihre Bedürfnisse? Sehe und verstehe ich diese überhaupt? So gerne würde ich mit meiner Mama darüber sprechen. Stattdessen schreibe ich einen Brief an sie und suche darin eine Antwort.

Liebe Mama, wie geht Inklusion?
In ein paar Tagen bin ich auf dem bundesweiten Inklusionstag in Magdeburg, organisiert vom Verein Zeitgeist der Inklusion. Ich freue mich darauf, denn ich finde das Thema Inklusion wichtig und gerne möchte ich einen Beitrag leisten, dass Menschen mit Demenz Teil der Gesellschaft sind und bleiben. Inklusion – das bedeutet für mich, dass jeder Mensch in der Gesellschaft teilhaben darf, egal wie er oder sie ist und welche Besonderheiten er oder sie mit sich bringt.
Menschen mit Demenz gehören mitten in die Gesellschaft, so wie jeder andere auch. Aber irgendwie ist das auch ganz schön theoretisch. Was bedeutet das im Alltag und wie lässt es sich umsetzen – und zwar im Großen (also gesamtgellschaftlich gesehen) wie auch im Kleinen (innerhalb der Familie)?
Wer vertraut ist, ist eher bereit zu unterstützen
Noch lange bevor es darum geht, ob und wie derjenige teilhaben kann, steht eigentlich die Frage, was der- oder diejenige überhaupt braucht und welche Bedürfnisse er oder sie hat.
Gesellschaftlich ist dies ein Problem, denn Demenz ist immer noch ein Tabu-Thema. Viele Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen sprechen nicht darüber, obwohl sie doch am besten Auskunft geben könnte. Aber: Wenn Menschen über das, was sie beschäftigt, nicht sprechen, wie sollen dann andere von ihren Bedürfnissen erfahren können?
Auch im Podcast “Leben, Lieben, Pflegen” haben Anja und ich schon oft darüber geredet, warum es so wichtig ist, über die eigenen Erfahrungen mit Demenz zu sprechen – und wie wohltuend es für alle Beteiligten meist. Und doch: Das Sprechen und Austauschen fällt schwer und findet oft nicht statt.
Dies hat allerdings auch Folgen: Die Menschen müssen sich nicht mit dem Thema Demenz auseinandersetzen – sie bekommen nicht die Chance, dazu zu lernen und sich damit vertraut zu machen. Eine aktuelle Befragung des Deutschen Zentrums für Altersfragen (DZA) zeigte, dass Menschen, die keine Erfahrungen mit dem Thema Demenz haben, sich davor scheuen, sich um Menschen mit Demenz zu kümmern. Es sind vor allem jene Personen bereit, Menschen mit Demenz zu unterstützen, die bereits mit dem Thema vertraut sind. Das ist schade, denn dadurch geht viel Potenzial und Hilfsmöglichkeiten verloren – und vor allem viel gutes Miteinander.
Die Studie kommt zum Fazit, dass es wichtig sei, “die Öffentlichkeit weiter über Demenzerkrankungen aufzuklären und Berührungsängste abzubauen”. Aber wie genau kann das gehen, frage ich mich. Wie fangen diejenigen an zu sprechen, die damit leben und was bringt alle anderen dazu zuzuhören? Das Bild, das von Demenz existiert, ist kein Schönes und es kann nur helfen, wenn wir Demenz neu sehen lernen. Bis zur Inklusion ist noch viel zu tun…
Liebe Mama, was sind deine Bedürfnisse?
Ich denke, vielleicht kann jeder im Kleinen anfangen, denn dort können wir oft direkt einiges ändern – und uns einbringen (Hürden gibt’s auch da genug). Im Grunde genommen ist diese Aufgabe schon ausreichend groß für jeden. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es manchmal gar nicht so leicht ist, die Bedürfnisse eines Angehörigen mit Demenz zu erkennen. Selbst, wenn wir Gespräche führen können, hören wir mitunter nicht richtig zu oder fragen gar nicht erst.
Und jetzt ist es noch schwieriger, weil wir nicht mehr miteinander reden können. Manchmal, da möchte ich, dass du an etwas teilhast, das kann der Spaziergang sein oder der Ausflug zur Eisdiele, weil ich denke, dass du doch ein Recht darauf hast, teilzuhaben und dass ich es dir nicht vorenthalten möchte.
Ich möchte dir etwas Gutes tun, aber in dem Moment hinterfrage ich manchmal gar nicht, ob ich dir damit wirklich etwas Gutes tue. Es sind eher meine Wünsche, die mich leiten. Oder meine Erinnerungen an dich. Früher war es ein großes Bedürfnis von dir, draußen zu sein und dich in der Natur zu bewegen. Doch aktuell ist es das nicht mehr – das wahrzunehmen und zu akzeptieren, gleicht einem dieser vielen Abschiede, die ich im Laufe der Jahre immer wieder nehmen musste…
So wie vor einiger Zeit bei dem Spaziergang: Da wollte ich, dass du mit uns sein kannst, so wie früher, aber für dich war das Spazierengehen eine Überforderung. Das habe ich schnell gemerkt, aber da waren wir schon unterwegs. Manchmal ist es auch einfach gut gemeint – und doch das Falsche.
Achtsamkeit, Aufmerkskeit und Zeit
Liebe Mama, wie können wir denn Inklusion im Alltag leben? Was wünschst du dir: von deinem Umfeld, von Freunden und von der Familie?
Ich denke, dass es vielleicht gar nicht so schwierig ist. Es benötigt vor allem Zeit und die Bereitschaft, mich von meinen Erwartungen und Vorstellungen zu lösen – und mich auf deine einzulassen. Dich zu hören, auch wenn du nicht mehr sprechen kannst. Dich zu sehen, so wie du bist. Das kann ich tun, und das möchte ich tun.
Ich erinnere mich an die Worte des Demenzexperten Michael Schmieder. Er hat in seinem Buch “Dement, aber nicht bescheuert” geschrieben: “Jeder Mensch möchte, dass man ihm auf Augenhöhe begegnet” und “Es ist egal, ob und woran ich leide, die Diagnose spielt keine Rolle, was allein zählt, ist das menschliche Maß im Umgang miteinander.”
Ich denke, das ist die Basis für Inklusion: ein gutes Miteinander. Ein Patentrezept gibt es nicht. Wie wir unser Miteinander und unser Zusammensein gestalten, ist letztlich indidividuell.
Liebe Mama, ich glaube, es bedarf vor allem Achtsamkeit, Aufmerksamkeit und Zeit. Ich glaube, wenn jeder achtsam ist und den Wunsch hat, etwas zu verändern, dann können wir das gemeinsam schaffen, oder was meinst denn du?
Deine Peggy
Hallo liebe Peggy, deine Artikel helfen mir, mit der Demenz besser klar zu kommen. Dieses Thema begleitet mich seit 5 Jahren. Ich möchte auch, das diese Menschen, die diese Krankheit haben, nicht als arme Irre abgestempelt werden. Oder: “… die bekommen ja eh’ nichts mehr mit.” Die sind ja in ihrer Welt. Weit gefehlt. Sie können sich nur nicht lautbar machen. Koennen Worte nicht in Saetze kleiden. Darum müssen wir es tun. Sie selbst können nicht mehr für sich einstehen. Bei Unternehmungen in die Stadt bin ich selbst an meine Grenze geraten. Nicht immer, aber manchmal. Meine Mutter wollte sich wohl ausstrecken, so wie man das eben macht und ist mir dabei fast aus dem Rollstuhl gerutscht. Ich habe auch gemerkt, dass sie nach diesen Ausflügen hinterher immer ganz platt war. Sie bekam dann auch einen anderen Blick…Die Reize von aussen können nicht mehr verarbeitet werden. Das ist zu viel. Vielleicht machen sie dem Menschen auch Angst… Ich muss fragen, was wir heute machen wollen. Sie spricht auch nicht mehr viel. Aber ich kann sehen, wann sie zufrieden ist und in sich ruht. Aber auch, wann es genug ist. Dann bleiben wir auf dem Zimmer. Der Einzugskreis wird halt kleiner. Sie schläft manchmal bei meinen Besuchen einfach ein. Ist auch ok. Bei der Hitze in diesem Sommer kein Wunder. Das würde sie sicher nicht machen, wenn ihr unwohl wäre. Ich lese ihr Gedichte vor, wir hören Musik, schauen uns Videos oder Bücher an oder singen. Da kann ich sie meist abholen und bin wirklich erstaunt, wie die Texte noch vorhanden sind. Ich zeige ihr Fotos der Familie oder aus der alten Heimat.
Da sind dann aber auch noch die Medikamente!! Auch ein wichtiges Thema.
Wir müssen erkennen können, was geht und was nicht. Jeder Tag ist anders. Demenz verläuft ja auch in Schueben. Es gibt in den Heimen für die unterschiedlichen Gruppen ein wenig Beschäftigung oder Kultur. Von anderen habe ich erfahren, dass mein Angehöriger nicht dabei ist. Aus welchem Grunde auch immer. Gleiches Recht für alle! Egal wie wer drauf ist. Das Problem ist sicher der Personalnotstand.
Demenz ist in der Gesellschaft noch lange nicht in der Mitte angekommen.
Wenn man im Bekanntenkreis über seine Wahrnehmungen erzaehlt, habe ich
das Gefühl, ich werde dafuer ein wenig belächelt, für dass, wie ich darüber denke. Sie kennen es ja nicht. Gefragt wird man ganz selten. Verständnis kann man nur von denen bekommen, die selbst in dieser Blase stecken. Ich merke eher auch von Angehoerigen: Sprich mich bloss nicht an! Viele wollen sich damit gar nicht auseinandersetzen.
Ich musste auch erst ein Gespür entwickeln, dass ich vorher auch nicht hatte. Kleine Kinder haben keine Berührungsängste – die Alten schmeissen die Krücken weg… Vielleicht muss es mehr Kindergärten geben, die dort einen regen Austausch pflegen. Das wäre toll.
Ich werde mir übrigens das Buch von Michael Schmieder nach Hause schicken lassen. Andere Länder sind viel weiter als Deutschland.
Die Notfalldose habe ich einem älteren Ehepaar im Dorf und mir schon besorgt. Sogar in meiner Hausarztpraxis wurde sie präsentiert. Super Idee!
Herzliche Grüsse aus Mecklenburg!
Liebe Christiane,
vielen Dank für deine ausführliche Nachricht, über die ich mich sehr freue. ich glaube, dass es für Außenstehende wirklich oft schwierig ist, nachzuvollziehen, was es bedeutet einen Angehörigen mit Demenz zu begleiten und zu betreuen, geschweige denn, was es bedeutet mit einer Demenzerkrankung zu leben. Das fällt ja sogar dann schwer, wenn man sehr viel darüber weiß. Ich glaube, das liegt daran, dass man dazu sehr vieles loslassen müsste – von Wissen, von Erinnerungen, von Konventionen, aber auch von Sicherheiten und Routinen – und wer möchte das schon freiwilliig? Ich ehrlich gesagt auch nicht so gerne.
Vielleicht ist es aber auch gar nicht notwendig, dass man hundertprozentig nachempfinden kann. Vielleicht, so genügt es schon, ein bisschen offener zu sein und andere Meinungen, andere Routine zuzulassen. Dem Unperfekten, dem Fehler einen Weg zu ebnen und Dinge einfach zu lassen, wie sie sind. Das sind wir nicht gewohnt, das haben wir nicht gelernt, weder bei uns noch bei anderen.
Ja, es gibt noch viel zu tun, bis Menschen mit Demenz in der Mitte der Gesellschaft sind. Und doch sind die Gesellschaft wird. Wir dürfen sichtbar machen, wir dürfen anecken – und sollten es auch tun, für unsere Angehörigen mit Demenz und auch für uns. Für eine lebendigere Gemeinschaft, die mehr aufeinander achtet. Irgendwie wünsche ich mir das, keine Ahnung, wie realistisch es ist.
vor ein paar Tagen ist ein neues Buch von Michael Schmieder herausgekommen und ich bin sehr gepsannt darauf.
Ich schicke dir ganz liebe Grüße! Pass gut auf dich auf!
Liebe Grüße, Peggy