In meinem Blog geht es vor allem um meine Erfahrungen mit der Alzheimererkrankung meiner Mama. Ich berichte von den Herausforderungen und den schönen Momenten – und möchte so Einblicke in das Leben mit Demenz geben und anderen Mut machen. Ich möchte aber auch anderen eine Stimme geben und zum Austauschen anregen. Denn ich bin überzeugt davon, dass wir am besten voneinander und miteinander lernen können, wie ein gutes Leben mit Demenz gehen kann. Deshalb findet ihr ab sofort auch Gastbeiträge auf meinem Blog und seid herzlich eingeladen, einen zu Geastbeitrag zu schreiben. Den Anfang macht Christoph. Er berichtet von seinem Vater Klaus und dem Autofahren.

Autofahren bei Demenz – für viele Familien ist das ein schwieriges Thema. Auch meine Mama wollte in den Monaten nach der Alzheimer-Diagnose immer mal wieder Autofahren, doch der Wunsch war nicht so stark. Mein Papa konnte sie immer leicht überzeugen, dass er sich hinters Steuer setzen möchte. Bald verkaufte er Mamas Auto, weil es einfach nicht mehr notwendig war, zwei Autos zu haben – und das Thema hatte sich erledigt.
Häufig läuft das nicht so reibungslos ab. In der Familie von Christoph Trappé etwa war das Autofahren beziehungsweise aufs Autofahren zu verzichten ein schwieriges Thema. Ich freue mich sehr, dass Christoph als Gastautor über seine Erfahrungen schreibt und berichtet, welche Herausforderung es war, seinem Vater vom Autofahren abzubringen – und wie es gelungen ist. Christoph arbeitet als Fotograf in Hamburg, schaut gerne mal vorbei auf seiner Website.
“Papi, ich habe ein Auto geklaut. Und zwar deins!”
Von Christoph Tappé
Das Telefon klingelt, ich nehme den Hörer ab, sage meinen Namen und weiß nicht ob ich lachen oder weinen soll, als sich am anderen Ende die Polizei meldet: „Herr Tappé, ihr Vater ist bei uns auf der Wache und möchte sein Auto als gestohlen melden. Das kommt uns irgendwie komisch vor…“ Klar, die Polizei schnallt sofort, dass sie einen Demenzkranken vor sich hat. Umso erstaunlicher, dass mein Vater in dem fortgeschrittenen Stadium seiner Erkrankung noch auf die Idee kommt, die Polizei nach seinem Auto fahnden zu lassen. Als ich dem Beamten mitteile, daß ich der Dieb des Wagens bin kann er sich ein schmunzeln nicht verkneifen. Mein Vater kommt 30 Minuten später nach Hause und tut so, als wäre nichts gewesen.

Autofahren bei Demenz
Das Thema Autofahren mit Demenz begleitet mich und die ganze Familie bereits seit über zehn Jahren, als bei meinem Vater eine „langsam voranschreitende Alzheimer-Demenz“ diagnostiziert wurde. Und ich musste drei Anläufe nehmen, bis meine Mutter und mein Bruder der gleichen Einschätzung waren wie ich: Das Auto muss weg.
Die Statistik bestätigt meine Vermutung: Personen über 65 Jahre sind überproportional häufig an schweren Verkehrsunfällen beteiligt, so die Deutsche Verkehrswacht.
In anderen europäischen Ländern sind regelmäßige Fahrtauglichkeit-Tests für Senioren Pflicht. In Italien und Portugal findet eine Überprüfung bereits für über 50-Jährige statt. Unser Bundesverkehrsminister, Andreas Scheuer, hält davon erstaunlicherweise gar nichts. ”Ich lehne Zwangstests für ältere Autofahrer ab”, sagte Scheuer. Tja, so bleibt der schwarze Peter bei den Angehörigen. Denn, für mich ist der Gedanke, dass eines Tages ein von meinem Vater verursachter Unfall anderen Personen Schaden zufügt, unerträglich.
Die neue Freiheit
Nun ist es so, dass das Thema Autofahren für meinen Vater – wie für so viele seiner Generation – immer eine große Bedeutung hatte. Als jüngstes von drei Geschwistern hat er vor über 60 Jahren als Erster seine Fahrerlaubnis erworben. Die Familie war begeistert. Und als schließlich das erste eigene Auto – na klar, ein VW-Käfer, dunkelblau, 37 PS – vor der Tür stand, war er der Held der Familie.
Mit dem Auto in den Süden
Zu meinen Kindheitserinnerungen gehören endlos lange Autofahrten in den Urlaub: Frankreich, Spanien, Italien. Ohne Klimaanlagen, dafür mit ordentlich Rauch und Gestank. Ausgelöst von filterlosen Zigaretten der Marke Virginia, Players No 6. Unerträglich damals, unvorstellbar heute. Einziger Fahrer auf den Trips gen Süden: mein Vater. Stunde um Stunde, Kilometer für Kilometer saß er konzentriert hinterm Steuer. Dank der Vorfreude auf den Familienurlaub ließ sich auch selbige am Fahren nicht bremsen.
”Ohne Auto, ohne mich“
Verständlich also, dass er niemals auf sein Auto verzichten wollte. Verständlich ebenso, dass eine kritische Selbsteinschätzung ab einem bestimmten Grad des Krankheitsverlaufs nicht mehr möglich ist. Also bin ich aktiv geworden.
Der erste Versuch: Sackgasse!
Das das Thema ”Autofahren verbieten“ nicht einvernehmlich mit meinem Vater besprochen werden konnte, war mir natürlich klar. Der Versuch meine Mutter davon zu überzeugen, das Auto abzuschaffen, scheiterte ebenso. In ihrer Vorstellung schränkte sie damit ja auch ihre eigene Mobilität stark ein. Mein Einwand, ich könne sie hier und da hinfahren, sie könnten ja künftig häufiger Taxi fahren, wurden abgeschmettert: „Du hast doch auch nicht so viel Zeit“ und „Viel zu teuer“. Der Hinweis auf das große Einsparpotential durch das abgeschaffte Auto verhallte ungehört.
Zweiter Anlauf: Einmal vorfahren, bitte.
Wiederholtes Googeln brachte mich circa zwei Jahre später auf eine Idee: Wenn ich schon meine Mutter nicht als Verbündete aktivieren kann, hole ich mir einfach einen Experten ins Auto, äh, ins Boot: einen Fahrlehrer. Der Anruf in der Fahrschule ergibt, dass nach einer Beobachtungsfahrt ein Gutachten erstellt werden kann. Kostenpunkt: 120 Euro. Eine wie ich finde lohnende Investition. Erstaunlicherweise willigt mein Vater ein – vermutlich in der Hoffnung, das Thema damit für alle Zeiten vom Tisch zu haben.

Der Tag der Wahrheit ist da. Ich bin frühmorgens zum Frühstück bei meinen Eltern. Mein erstaunter Vater freut sich über meinen Besuch: „Was machst Du denn hier, Christoph?“ „Ich hole dich zur Probefahrt in der Fahrschule ab.“ Ratlos schaut mein Vater mich an. Egal, wir fahren los. Auf dem Weg zur Fahrschule – ich fahre – kommt seine Frage: „Wo fahren wir eigentlich hin?“ Mir bricht es das Herz und ich versuche, es so sanft wie möglich zu erklären. Mein Dad schaut mich hilflos an. Aber er macht mit.
Die Testfahrt dauert 30 Minuten, ich warte vor der Fahrschule. Anschließend teilt mir der Fahrlehrer mit, dass mein Vater zwei Stopp-Schilder ohne anzuhalten überfuhr, einen Fahrradfahrer übersehen hat und eine Ampel bei gaaaaaanz dunklem Gelb passiert hat. Er hält ihn dennoch für fahrtüchtig und kündigt eine schriftliche Zusammenfassung an. Ich ringe um selbige. Das kann doch nicht wahr sein. Warum hilft mir denn keiner? Versuch Nummer 2: Gescheitert.
Aller guten Dinge sind drei: Ihre Autofahrt endet hier.
Meine Mutter muss für mehrere Tage ins Krankenhaus. Ich bringe sie gemeinsam mit meinem Vater dorthin. Mein Plan, meinen Vater während ihres Aufenthalts zuhause zu lassen und einmal am Tag die Lage zu checken, verwerfe ich nachdem ich wieder mit ihm in der Wohnung meiner Eltern ankomme. Auf der Rückfahrt vom Krankenhaus hat er mich zweimal gefragt, wo denn meine Mutter sei. Jetzt sucht er sie zuhause. Mein Gott, dieses Ausmaß war mir nicht klar.
Ich merke, was meine Mutter alles für sich behalten hat. Sofort ist klar, mein Vater kommt mit zu mir nach Hause. Mein Bruder kommt vorbei, um sich nach dem Stand der Dinge zu erkundigen. Ich sitze mit ihm im Wohnzimmer, mein Vater bleibt allen in der Küche. Ich nutze die Gunst der Stunde, teile meinem Bruder meine Bedenken mit und er willigt ein: Das Auto muss weg. Gesagt, getan. Kurzerhand sacke ich die Schlüssel ein.
Mein Vater ist unruhig, läuft in der Wohnung hin und her. Öffnet Schubladen, durchsucht zum wiederholten Male seine Jackentaschen – ich ahne es: Er sucht seine Autoschlüssel. Wir sprechen ihn an, konfrontieren ihn sachte aber bestimmt mit der Wahrheit. Er ist fassungslos. Seine Jungs nehmen ihm sein Auto weg. Er schimpft leise vor sich hin. Setzt sich wieder in die Küche, steht wieder auf, sucht weiter. Klar, er hat es wieder vergessen.
Am Ziel angekommen
Später nehme ich ihn mit zu mir nach Hause. Wir fahren täglich ins Krankenhaus zu meiner Mutter, bei unserer Rückkehr am Abend freut sich mein Vater immer wieder, mein Haus zu sehen: „Das ist ja schön. Verbringt ihr den ganzen Sommer hier, Christoph?“ Ja, klar. Wir leben ja hier. Unsere gemeinsame Woche ist wunderschön. Wir sind uns so nahe wie lange nicht. Ich bringe meinen Vater abends ins Bett, decke ihn zu. Wir haben die Rollen getauscht.
Nachtrag: Sein Auto hat mein Vater nie vergessen. In seiner Wahrnehmung ist es geklaut worden, er hat es genau beobachtet: es waren zwei Männer. Glücklicherweise aber hat er vergessen, dass ich einer davon bin.
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Danke, lieber Christoph, dass du deine Erfahrungen teilst!
Weitere Infos und Links zum Thema Autofahren & Demenz
Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft hat ein Informationsblatt zum Thema Autofahren und Demenz erstellt (Nr. 19): Darin geht um rechtliche Fragen (Wie läuft eine Überprüfung der Fahrtüchtigkeit ab? Was ist mit der ärztlichen Schweigepflicht?), es werden Warnzeichen für verminderte Leistungsfähigkeit im Verkehr erklärt und Empfehlungen für Angehörige gegeben, um mit dieser Situation gut umzugehen. Ihr könnt es hier herunterladen und lesen.

Nr. 19 Autofahren und Demenz
Die Demenzberaterin Eva Helms hat auf ihrem Blog ebenfalls zum Thema Autofahren und Demenz geschrieben. “Wie Sie einschätzen, ob Ihr Angehöriger noch fahren darf und was Sie tun können, wenn die Fahrtauglichkeit nachlässt” ist ein sehr lesenswerter Artikel, den ich gerne empfehle. Hier kannst du ihn lesen.

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