Dieses Jahr 2020 ist krass. Für mich eindeutig von Corona dominiert. Und noch immer hält die Pandemie an, mit aktuell wieder großen Einschnitten in das tägliche Leben. Und nun: Weihnachten! Seit Wochen blicke ich mit sehr gemischten Gefühlen auf die Weihnachtsfeiertage und frage mich, wie ich dieses Jahr feiern werde. Werde ich mit meiner Mama feiern können? Da schlagen zwei Herzen in meiner Brust. Ich möchte gerne bei ihr sein und mit ihr und meinem Papa und meiner Familie feiern. Die gesetzlichen Vorgaben würden das sogar erlauben. Aber ich habe auch Angst davor. Denn die Bedrohung durch Corona ist sehr real und ich habe Angst, meine Eltern anzustecken. Was tun?

Liebe Mama, ich möchte Weihnachten bei dir sein – und zögere doch.
Wochenlang habe ich versucht, die Weihnachtsfeiertage zu verdrängen. Während meine Kinder sich seit den ersten Erscheinen von Lebkuchen im Supermarkt auf Weihnachten freuen und seitdem eifrig an ihren Wunschzetteln für das Christkind tüfteln, würde ich das Fest am liebsten komplett streichen. Denn ich weiß nicht recht, was ich tun soll.
Weihnachten zu Hause ist ein Stück Kindheit
Ich möchte gerne bei dir und Papa sein an Weihnachten. Denn das ist für mich eine besondere Zeit. Als kleines Mädchen habe ich Weihnachten geliebt, so wie es meine Töchter nun tun. Es war eine Zeit, die etwas Magisches an sich hatte. Und es war auch eine Zeit, die wir intensiv miteinander verbracht haben.
Meine liebe Mama, du hast immer so viel und gerne gebacken und in der Vorweihnachtszeit bist du zur Bestform aufgelaufen. Vanillekipferl, Butterplätzchen, Florentiner, Spritzgebäck – das ist nur eine kleine Auswahl an Plätzchen, die wir gebacken haben. Den ganzen Nachmittag standen wir in der Küche, du und ich und auch mein Bruder. Ich erinnere mich an die vielen Plätzchen, die wir ausgestochen und später mit Schokolade verziert haben. Der Duft von Keksen zog durch das ganze Haus und lockte sogar Papa in die Küche, der immer mal nach dem Rechten schauen wollte und sich heimlich ein Plätzchen mopste.
“Warum backst du so viel?”, hat mich neulich eine Freundin gefragt. Ich konnte keine Antwort geben. Doch ich weiß sie eigentlich sehr gut. Denn ich backe nun mal gerne. Backen hat mir in der Corona-Zeit geholfen, es lenkt mich ab und ich kann anderen damit etwas Gutes tun. Ich glaube, diese Freude am Backen habe ich in unseren gemeinsamen Advents-Back-Stunden gelernt. Manches Mal war ich dabei sehr verzagt. Wenn ein Vanillekipferl nach dem anderen durchbrach oder die Butterplätzchen am Tisch kleben blieben. Ich habe oft geflucht (und tue das auch manches Mal heute noch beim Backen), aber du hast mir viele Tricks beigebracht und auch gezeigt, dass es gar nicht schlimm ist, verunglückte Plätzchen zu produzieren. Die sehen vielleicht nicht perfekt aus, aber schmecken mindestens genau so gut.
Weihnachten macht mich wehmütig
An Weihnachten bin ich immer nach Hause gekommen. Als ich dann ausgezogen war, als ich im Ausland studierte, irgendwie war der Wunsch nach einem Weihnachten bei dir und Papa immer größer als jegliche Wünsche nach Reisen (und das will was heißen :-))
Ich habe es neulich gemerkt, dass ich dich auch jetzt vermisse. Mit meinen Töchtern habe ich Plätzchen gebacken und die drei waren eifrig dabei. Ich habe dein Vanillekipferl-Rezept rausgesucht und wurde schlagartig sehr melancholisch. Denn ich wünschte mir, dass wir mit dir gemeinsam backen könnten.
Ich sah meine Mädchen, wie sie den Teig ausrollten und die Plätzchen formten und dachte, dass du vermutlich viel Freude an deinen drei Enkeltöchtern haben würdest. Dass du eine richtige Oma sein könntest, die für die Familie da sein könnte – und war traurig, dass all das nicht möglich ist.

Aber, ich war nicht nur traurig. Weißt du, liebe Mama, ich war auch froh und stolz. Mit dem Backen hast du mir etwas beigebracht und diesen Teil von dir gebe ich nun an meine Kinder weiter. Das hat mich lächeln lassen. “Die Oma würde sich freuen, wenn sie euch so sehen könnte und wüsste, dass ihr auch so gerne backt wie sie”, habe ich mit fröhlichem Wehmut meinen Töchtern gesagt.
Wie viele Weihnachten werden wir noch feiern können?
Weihnachten hat sich durch deine Alzheimererkrankung verändert. Liebe Mama, ich möchte auch gerne zu dir, weil ich nicht weiß, wie viele Weihnachten wir noch feiern können. Natürlich, man weiß nie, was das Leben bringt, aber eine Krankheit wie Alzheimer ist lebensverkürzend. Als die ersten Politiker in dieser Corona-Pandemie sagten, man solle sich bitte etwas zurücknehmen, schließlich sei das jetzt ja nur ein Weihnachten und man könne ja nächstes wieder zusammen feiern, habe ich mich gefragt: Kann ich das? Werden wir noch ein Weihnachten zusammen feiern können?
Du hast im vergangenen Jahr sehr abgebaut und bist ganz oft in deiner Anders-Welt. Wenn wir am Tisch sitzen und essen, dann machst du manchmal die Augen zu. Papa hilft dir liebevoll beim Essen und führt die Gabel zu deinem Mund. Du machst den Mund auf, aber nicht die Augen. Wer weiß, wie es in einem Jahr ist…
Deine Demenz lehrt uns schmerzlich, immer wieder neu Abschied zu nehmen. Und in mir verstärkt sie diesen Wunsch, bei dir zu sein und mit dir so viel Zeit wie möglich zu verbringen. Dir zu helfen, dir Nähe und schöne Momente zu schenken. Deswegen möchte ich so gerne zu euch fahren.
Weihnachten inmitten der Corona-Pandemie
Aber dieses Jahr ist auch ganz besonders. Die Corona-Pandemie ist immer noch nicht vorbei. Die Zahl der Neuinfektionen mit dem Coronavirus sind seit Wochen auf so einem hohen Stand, dass wir uns nun in einem erneuten Lockdown befinden. Kontakte einschränken und auf Abstand gehen, heißt die Devise.
Menschen mit Demenz gehören aus mehreren Gründen zur Risikogruppe. Da ist das Alter, da sind Begleiterkrankungen wie Bluthochdruck, ein geschwächtes Immunsystem. Zugleich fallen ihnen Maßnahmen wie Handhygiene, Nies-Etikette und Einschränkungen im Alltag schwer. Ich möchte dich auf keinen Fall gefährden und das Virus zu dir tragen.
Laut Gesetz dürften wir Weihnachten zusammen verbringen. Aber ist es auch eine gute Idee? Was, wenn ich dich oder Papa anstecke? Dieser Gedanke lässt mich zögern. Ich weiß, dass Papa sich sehr freuen würde, mich und die Kinder zu sehen. Und ich weiß, dass auch du dich freuen würdest. Jedes Mal, wenn ich zu euch komme, hast du so ein Leuchten in den Augen und du lächelst und ich spüre, dass deine Freude.

wir können uns in diesem Jahr auch sehen
Liebe Mama, was tun mit Weihnachten?
Als ich mit Anja für unsere Weihnachts-Folge von “Leben, Lieben, Pflegen – Der Podcast zu Demenz und Familie” über Weihnachten gesprochen habe, hat sie vorgeschlagen, dass ich dich in Gedanken fragen könnte. “Du könntest mit deiner Mutter so wie sie als gesunde Person war, in den Austausch gehen. Was hätte sie dir als deine Mama geraten?”, fragte Anja.
Du hättest mich sehen wollen, da bin ich mir sicher. Aber ich bin mir auch sicher, dass du nicht gewollt hättest, dass ich ein Risiko eingehe. Aber ich weiß auch, dass du mir immer vertraut hast. Darauf, dass ich eine vernünftige Entscheidung treffe. Und in den allermeisten Fällen habe ich das auch.
Was also tun, dieses Weihnachten? Im ersten Lockdown war ich voller Angst vor dem Coronavirus, jetzt gehe ich anders damit um. Ich habe neulich über die großen Herausforderungen für pflegende Angehörige geschrieben. Ich sehe es auch als meine Aufgabe an, in diesen Corona-Zeiten für dich da zu sein, denn du und Papa ihr könnt den Alltag mit der Herausforderung Alzheimer nicht zu zweit schultern.
Die Entscheidung für dieses Weihnachten habe ich noch nicht getroffen. Sie hängt auch davon ab, ob wir in ein paar Tagen alle gesund sind. Mit einer Schniefnase würde ich auf keinen Fall zu euch fahren. So sehr mich dieser Lockdown und die Ausgangssperren auch nerven, sie haben den Vorteil, dass ich und die Kinder jetzt nur alleine zu Hause sind – eine bessere Vorquarantäne gibt es kaum.
Liebe Mama, ich hoffe sehr, dass wir uns sehen. Aber noch wichtiger, als dass wir uns Weihnachten sehen, ist, dass ich dich überhaupt wiedersehe und wir alle gesund bleiben. Dieses Jahr ist einfach krass anders – und womöglich wird auch Weihnachten einfach ganz anders.
Und selbst wenn ich Weihnachten nicht bei dir sein kann, in Gedanken bist du immer bei mir.
Deine Peggy
Ein Gedanke zu „Liebe Mama, ich möchte Weihnachten so gerne bei dir sein – und zögere doch“