Gastbeitrag

Gastbeitrag von Michael: “Mein Vater und die Demenz meiner Mutter”

Jede Demenz ist irgendwie verschieden und mit ihr auch die Herausforderungen, die Familien erleben. In diesem Gastbeitrag schreibt Michael Piplack über ein Thema, das ihn sehr beschäftigt, wie er mir schrieb. Er schreibt über “die unfassbare Bereitschaft meines Vaters, alles für meine demenzkranke Mutter zu tun und sich selbst dabei völlig in den Hintergrund zu stellen”.

Michael Piplack und Mutter
Michael Piplack mit seiner Mutter

Auf meinem Blog findet ihr auch immer wieder Beiträge von anderen Menschen, die über ihre Erfahrungen mit der Demenz berichten (in der Rubrik Gastbeiträge.) Angehörige, Pflegende und Menschen mit Demenz schreiben über Themen, die sie beschäftigen. Dieser Text stammt von Michael Piplack, der über die Demenz seiner Mutter schreibt und wie sich sein Vater aufopferungsvoll um die Mutter gekümmert hat. “Seine Bereitschaft, sich vollständig der Begleitung meiner Mutter hinzugeben, sein Anspruch, sich komplett aufzuopfern, haben ihm letztendlich ein paar schöne Jahre genommen”, resümiert Michael.

Michael möchte mit seiner Familiengeschichte anderen Angehörigen Mut machen, sich frühzeitig und gut um sich selbst zu kümmern. Selbstfürsorge, ist ihm ein großes Anliegen.

Mein Vater und die Demenz meiner Mutter

von Michael Piplack


Meine Eltern waren schon immer etwas eigenbrötlerisch. Sie fühlten sich am wohlsten, wenn sie allein waren. Freunde gab es kaum und wenn, dann nie für lange Zeit. Irgendetwas stimmte immer nicht mit den anderen, meistens Kleinigkeiten (aus meiner heutigen Sicht), aber für meinen Eltern immer Grund, Abstand zu suchen und zu wahr.

Aber sie fühlten sich wohl dabei, hatten immer genug mit sich selbst zu tun. Gleichzeitig erschien es mir so, als wären sie irgendwie immer auf der Flucht. Zuerst innerhalb von Hamburg, dann zog es sie nach Spanien um dann zehn Jahre später wieder zurück nach Deutschland zu „fliehen“. Diesmal in einen kleinen Ort in der Nähe der Ostsee.

Meine Eltern, damals schon 73- beziehungsweise 68-jährig, meinten sogar, sich nun noch ein neues Haus bauen zu müssen… mit allen Problemen, die bei einem Hausbau nun mal so entstehen.

Zu zweit allein sein

Natürlich waren wieder alle anderen schuld daran, dass nicht alles so funktionierte, wie geplant. Dass beim Bau Probleme auftauchen könnten, gab es in ihrer Welt nicht. Denn dafür gibt es ja Fachleute und Autoritäten, die darauf zu achten hätten, dass alles glatt läuft.

Schon komisch, damals ist mir dieser „Spleen“ gar nicht so aufgefallen. Vielleicht war es mir auch egal, denn ich habe meine Eltern so akzeptiert, wie sie waren: Eigenbrötler. Ich erzähle das vor allem deshalb, weil ich denke, dass alles, was dann geschah, irgendwie mit dem Lebensmuster meiner Eltern zusammenhing.

Es war typisch für das vieler kurz vor dem Krieg geborener Menschen: gelernt, alles selbst zu meistern, Probleme gerne weg reden, ungern Hilfe annehmen, für sich selbst sein. Stolz (auch zu Recht) auf das, was sie in den Jahren nach dem Krieg geschaffen haben. Letztendlich sind meine Eltern so ganz gut durchs Leben gekommen, haben drei Kinder großgezogen und sich ein Häuschen zusammengespart.

Mutter wird krank

So verging die Zeit und eigentlich waren beide Eltern gesundheitlich noch ganz gut beieinander. Regelmäßige Spaziergänge, Fahrradfahren, wandern – ging alles noch wunderbar. Bis dann plötzlich – zuerst vereinzelt, dann immer häufiger – bei meiner Mutter Schwindelanfälle mit anschließender kurzer Ohnmacht auftraten.

Nach einem solchen Anfall war dann alles wieder, als wäre nichts gewesen. Für alle Ärzte war das unerklärlich. Einige Krankenhausaufenthalte und viele Untersuchungen folgten, Medikamente wurden eingestellt, aber alles ohne Erfolg.

Mein Vater achtete in dieser Zeit immer sehr auf meine Mutter, passte immer auf, ging immer so, dass er sie notfalls auffangen könnte. In dieser Phase – meine Mutter war etwa 74, mein Vater 79 – fiel mir und anderen erstmals auf, dass meine Mutter häufig nicht mehr richtig Gesprächen folgen konnte, Dinge vergaß, merkwürdige Fragen stellt. „Das liegt bestimmt an den Medikamenten“, bildeten wir uns ein. Wahrscheinlich ist sie falsch eingestellt!

Flucht vor Realitäten

An Demenz dachte in dieser Phase tatsächlich niemand. Warum sollte unsere Mutter auch plötzlich dement werden? Dazu kam ja noch, dass sie den Haushalt immer noch gut meisterte. Selbst der Hausarzt, eine absolute Vertrauensperson meiner Eltern, kam nicht auf diese Idee und verwies immer darauf, wir rüstig meine Mutter noch sei, eben manchmal etwas „tüddelig“.

Einen Test haben wir damals nicht gemacht, wäre wohl auch gar nicht in Frage gekommen, Demenz war weit weg, hatten nur die anderen. Krankheiten, altern oder gar das Sterben waren nie ein Thema in unserer Familie. Wurde alles verdrängt. Auch das, so wurde mir erst später klar, sehr typisch für diese Generation. Nach dem Motto: Es kann nicht sein, was nicht sein kann. Kurz vor Weihnachten war es dann soweit: Mein Vater musste sich selbst einer Operation unterziehen, meine Mutter stürzte wieder und kam ins Krankenhaus.

Nachdem die Untersuchung mal wieder nichts ergeben hatte, wurde sie zu einer Kurzzeitpflege in ein Pflegeheim im Ort gebracht, um die Zeit, bis mein Vater wieder im Haus sein würde, zu überbrücken. Und dann kam mein Vater wieder, aber gleichzeitig konnte meine Mutter immer schlechter gehen, verlor den Orientierungs- und Gleichgewichtssin

Hoffnung auf Besserung

Es wurde also beschlossen, dass meine Mutter erst einmal weiterhin im Heim bleibt, von dort aus auch eine Reha bekommt und dann wieder fit wird. Doch nichts schlug an, meine Mutter blieb gehandikapt, ihre volle Bewegungsfähigkeit konnte nie wieder hergestellt werden.

Zudem baute sie auch geistig immer weiter ab. Sie erinnerte sich zeitweise nicht mehr an das Mittagessen, an Besuche vom Vortag oder an Reha-Maßnahmen, die mit ihr gemacht worden waren. Wenn wir ihre Beschwerde weitergaben, wurden wir nur mit großen Augen angeguckt, denn natürlich hatten diese Maßnahmen stattgefunden.

Dazu kam eine negative Einstellung den anderen Bewohnern gegenüber. Das wären alles nur alte demente Menschen, sie müsse ganz schnell weg von denen, schnell nach Hause. Sich selbst sah sie als völlig fit an, nur „das mit dem Gehen“ müsse noch besser werden…

Wir, das heißt meine Schwester und ich, ahnten, dass dies wohl nichts mehr werden würde. Mein Vater hingegen ging fest davon aus, dass es sich bei dem Zustand nur um einen vorübergehenden handeln würde. Er besuchte sie jeden Tag, aß mit ihr zum Mittag, ging dann kurz nach Hause, um am Nachmittag bis zum Abendbrot wieder bei ihr zu sitzen.

Auch er war nicht 100-prozentig fit, so dass Spaziergänge oder nur kleine Bewegung im Garten der Residenz die Ausnahme blieben. Ein – aus unserer Sicht – sehr trübes Leben, denn auch gehaltvolle Gespräche fanden nach fast 50 Ehejahren kaum noch statt.

Selbstaufgabe bei der Betreuung

Dennoch, für beide schien es eine Selbstverständlichkeit zu sein, so vor sich hinzuleben. Sie hatten nichts anderes mehr, nur noch sich selbst. Vorher gab es immerhin noch den Garten, gemeinsames Einkaufen und kochen, ein kurzes Gespräch mit dem Nachbarn. Nun also nichts mehr, tagein, tagaus.

Wie oft sprachen wir mit meinem Vater, er solle sich doch auch mal um sich selbst kümmern, mal wieder etwas lesen oder in das Ortszentrum fahren (was er früher täglich gemacht hatte!), um mal ein wenig Abwechslung zu haben. Damit auch er ein Leben hat und nicht nur am Bett oder Tisch meiner Mutter sitzt.

„Sie würde das auch für mich tun“ war dann seine Antwort. Er wolle ihr mit seiner Anwesenheit helfen, wieder auf die Beine zu kommen und ihr ein guter Begleiter sein. Vielleicht waren die beiden sogar auf ihre Art glücklich mit dieser Situation.

Einsicht, dass es zu viel wird

Irgendwann, circa zwei Jahre später, merkte mein Vater, dass ihn die Kräfte verließen. Er war nun schließlich auch schon 84 Jahre alt. Das Haus in Ordnung halten, jeden Tag ins Heim, viel Langeweile und Ungewissheit. Vielleicht war es auch die aufkommende Hoffnungslosigkeit, denn es war offensichtlich, dass die ganze Situation auch an ihm nagte und ihn tatsächlich schneller altern ließ, als es vorher abzusehen war.

Wir waren fast froh, als er uns endlich verkündete, dass es wohl besser wäre, wenn er das Haus aufgeben und mit meiner Mutter in eine Residenz bzw. in ein Haus, das betreutes Wohnen anbietet, ziehen würde.

Wir sollten uns doch mal etwas umhören was Standort, Kosten und das ganze Formelle betrifft.Das taten wir gern. Blitzschnell lagen Vorschläge auf dem Tisch. An alles war gedacht, selbst Haus- und Autoverkauf waren schon vorgeplant. Natürlich braucht ein solcher Entschluss auch Zeit zum Reifen. Zu viel Zeit.

Zu spät…

Eines Tages kam der Anruf, vor dem wir schon eine ganze Zeit Angst gehabt hatten. Das Heim meiner Mutter meldete sich um uns zu sagen, dass mein Vater schon zwei Tage nicht zu Besuch gewesen war. Absolut ungewöhnlich, denn er kam ja sonst jeden Tag! Das konnte nur höchste Alarmstufe bedeuten!

Nach einem erfolglosen Anruf bei ihm wurden sofort Nachbarn und Polizei alarmiert. Die Nachbarn, die einen Schlüssel „für alle Fälle“ besaßen, waren schnell vor Ort und fanden meinen Vater zusammengebrochen und bewusstlos im Badezimmer. Ein Schlaganfall hatte ihn niedergestreckt.

Niemand weiß, wie lange er so dagelegen hatte, aber er lebte noch und wurde schnell versorgt und ins Krankenhaus gebracht. Es dauerte eine Weile, bis er sich wieder erholt hatte, aber erstaunlicherweise kam er sogar wieder einigermaßen auf die Beine.

Ich hatte das nach den ersten Eindrücken im Krankenhaus nicht für möglich gehalten.
In dieser Zeit musste meine Mutter auf die Besuche meines Vaters verzichten. Wir hatten ihr natürlich gesagt, dass unser Vater im Krankenhaus lag, aber das war für sie kein großes Problem.

Sie wollte nur schnell nach Hause, damit sie wieder da wäre, wenn er dann nach Hause kommt. Vor allem sollte an diesem Tag alles ordentlich und das Essen bereitet sein. Es gab nun keine Wahl mehr: Unsere Eltern wurden kurz vor Weihnachten per Krankentransport in eine Residenz in der Nähe von Hamburg gefahren.

Der Plan, der eigentlich gemacht worden war, um beiden zusammen ein leichteres Leben und einen schönen Lebensabend in unserer Nähe zu gewährleisten, wurde nun unter ganz anderen, leider sehr traurigen Voraussetzungen umgesetzt.

Die letzten Jahre

Die Residenz der beiden lag ganz in unserer Nähe, so dass wir viel öfter zu Besuch sein konnten als vorher. Meine Schwester war fast täglich dort. Mein Vater blühte noch einmal kurzzeitig auf, so dass wir im März den 50sten Hochzeitstag und im April seinen 85. Geburtstag feiern konnten.

Danach ging es aber steil bergab. Mein Vater mochte einfach nicht mehr, der (Über) -lebenswille verließ ihn. Immer wieder fragte er mich, ob alles geregelt und für meine Mutter gesorgt sei, ob das Geld reichen würde. Bis zuletzt war das seine einzige Sorge, bis er dann im September, also rund neun Monate nach dem Umzug, verstarb.

Meine Mutter lebte noch fast zwei weitere Jahre. Die anfängliche Unruhe, weil sie nun plötzlich alleine im Zimmer war, wich sehr schnell einer schön anzusehenden Ausgeglichenheit. Wir hatten noch viele schöne, lustige, gefühlvolle und besinnliche Momente. Aber das ist ein anderes Thema.

Bis heute glaube ich, dass mein Vater noch leben könnte oder einen angenehmeren, würdevolleren Lebensabend hätte verleben können. Seine Bereitschaft, sich vollständig der Begleitung meiner Mutter hinzugeben, sein Anspruch, sich komplett aufzuopfern, haben ihm letztendlich ein paar schöne Jahre genommen.

Niemand weiß, wie es unter anderen Umständen gekommen wäre. Aber ich bin sicher, dass es sich auf jeden Fall lohnt, frühzeitig über alle Optionen, die das Leben im Alter bietet, nachzudenken.

Vielen Dank, lieber Michael, für deinen Gastbeitrag und dass du deine ehrlichen Erfahrungen hier teilst!


Mehr von Michael Piplack findet ihr auf seiner Website www.demenz-und-du.de. Damit möchte er Angehörigen, Freunden und Bekannten von Menschen mit Demenz helfen. “Wir wollen die Angehörigen an die Hand nehmen, ihnen zeigen, dass sie sich nicht selbst vergessen dürfen, dass sie vielmehr ein Recht auf ein eigenes Leben haben”, erklärt Michael. Schau doch gerne mal bei ihm vorbei!


Du willst auch einen Gastbeitrag schreiben? Ich freue mich, wenn andere ihre Erfahrungen teilen, denn so können wir von- und miteinander lernen. Wie geht es euch als Angehörige eines Menschen mit Demenz? Was sind eure Herausforderungen und welche Lösungen findet ihr? Was wünscht ihr euch von anderen?

Schreibt mir gerne an peggy@alzheimerundwir.com

Ich freue mich, von dir zu hören!

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