Jeder Mensch mit Demenz, jeder Angehörige macht unterschiedliche Erfahrungen mit der Erkrankung – und es ist so wertvoll, wenn wir diese teilen, um das Thema Demenz aus der Tabu-Ecke zu holen. Ich freue mich, dass ich wieder einen Gastbeitrag für euch habe. Marion hat mir einen langen Brief geschrieben und von ihrer Mutter mit Demenz berichtet. “Die letzten drei Jahre waren voller Höhen und Tiefen”, schreibt sie. In diesem Gastbeitrag berichtet Marion davon, wie sie ihre Mutter gepflegt hat und was ihr dabei geholfen hat, die Demenz zu verstehen und ihre Mutter bis zum Schluss zu begleiten. Danke, liebe Marion, für deine Offenheit! Deine Geschichte zu lesen, hat mir viel Mut gemacht!

Auf meinem Blog findet ihr auch immer wieder Beiträge von anderen, die über ihre Erfahrungen mit der Demenz berichten (hier findet ihr alle Gastbeiträge.) Angehörige, Pflegende und Menschen mit Demenz schreiben über Themen, die sie beschäftigen. Dieser Text stammt von Marion Steg, die über die Demenz ihrer Mutter schreibt und wie sie nach und nach gelernt hat, mit der Erkrankung umzugehen. “Die letzten drei Jahre waren voller Höhen und Tiefen”, lautet ihr Fazit.
Marion schreibt auch über die Körpersprache. Mich hat besonders berührt, wie sie dies beschreibt: Je mehr man auf die Person, die mir der Demenz kämpft, achtet, desto mehr bekommt man auch mit und kann von den Gesichtszügen lesen. Und die Person teilt einem auch ganz genau mit, was sie will. Und diese Wünsche sollte man auch unbedingt respektieren.”
Diese Themen findest du in diesem Blog-Artikel
Gastbeitrag von Marion: “Die Körpersprache wird immer wichtiger”
“Ich bin Marion, 55 Jahre alt, zum zweiten Mal verheiratet, kinderlos, Einzelkind und wohne in Karlsruhe.
Die Diagnose war ein Schock
Im August 2020 erhielt meine Mama (und auch wir) die Diagnose Demenz vom Alzheimer Typ, schnell fortschreitend. Obwohl wir schon länger bemerkt hatten, dass mit Mama etwas nicht mehr stimmt, war die Diagnose doch ein Schock. Mein Mann hat sich gleich abgegrenzt und gesagt, er will mit der ganzen Sache nichts zu tun haben. Mein Vater hat sich auch sehr zurückgezogen, so dass ich (fast) alleine da stand mit Mama.
Und nun? Was heißt das jetzt? Was kommt auf mich zu? Ich habe sofort angefangen, zu recherchieren und alles an Infos zu bekommen, was ich nur konnte. Aber alles Infomaterial ist nichts gegen die Realität. Anfangs war es noch ganz okay. Mama hat halt viel vergessen und verlegt und kam dann mit diesen Geschichten ums Eck, dass jemand eingebrochen ist, geklaut hat etc. Ich habe versucht, alles logisch zu erklären, warum Dinge nicht mehr da sind oder woanders liegen. Aber das war vergebens.
Sie hat gefühlt alle fünf Minuten bei mir angerufen und mit mir telefoniert. Jedes Mal die gleichen Fragen, die gleichen Geschichten. Ja, ich muss zugeben, ich hatte nicht immer die Geduld und habe sie oft angemotzt und zurechtgewiesen. Oft bin ich auch nicht ans Telefon, dann stand sie eben vor meiner Tür und hat so lange geklingelt, bis ich aufgemacht habe. (Wir wohnen in einem Mehrfamilienhaus. Meine Eltern im 2. OG, ich im EG.)
Die Tagespflege war besser als ein Sechser im Lotto
Irgendwann wurde es mir zu viel und ich habe für meine Mama einen Platz in der Tagespflege gesucht. Gott sei Dank gibt es ganz bei uns in der Nähe eine Einrichtung des ASB, wo ich meine Mama unterbringen konnte. Und ich hatte das riesige Glück, dass ich sie jeden Tag (Montag-Freitag) von 08:00 bis 16:00 Uhr dort hinbringen konnte. Das war besser als ein Sechser im Lotto. Einfach genial. Das Personal dort ist total freundlich und kümmert sich super um die Tagesgäste. Offensichtlich hat es meiner Mama dort auch gut gefallen und sie hat sich dort wohl gefühlt
Aber was tun am Wochenende? Anfangs konnte ich sie noch begeistern für Memory spielen oder Mensch ärgere Dich nicht. Aber auch das Interesse wurde immer weniger und die Spielregeln mussten wir anpassen, da sie bei Mensch ärgere Dich nicht auf einmal nicht mehr wusste in welche Richtung sie ziehen muss oder welche Farbe sie hat. Zum Schluss haben wir dann auch „Memory verkehrt“ gespielt, also die Karten mit den Bildern nach oben gelegt und versucht, die gleichen Bilderpaare zu finden. Bis auch das nicht mehr funktionierte.

Dann konnte ich nur noch auf die Dinge reagieren, die sie angeregt hat. Wir haben zusammen „aufgeräumt“, Wäsche zusammengelegt, waren zusammen einkaufen. Ich habe immer versucht, so gut es ging, sie in alles einzubeziehen, so lange es ging.
Ich habe viel aus dem Seminar mitgenommen
Anfang 2021 bin ich auf ein Seminarangebot der Stadt Karlsruhe gestossen, dass kostenfrei war für Angehörige. „Demenz verstehen“ heißt das Seminar und ging über sechs Abende (also über sechs Wochen, dienstags von 18:00 Uhr bis 20:30 Uhr). (Anm. Peggy: Hier findet ihr einen Demenz-Ratgeber für Karlsruhe mit vielen Anlaufstellen). An drei Abenden wurden die ganzen verwaltungstechnischen Sachen vorgestellt, angefangen von der Vorsorgevollmacht über Patientenverfügung bis hin zu den Pflegegraden und was die Pflegekassen alles anbieten. An den anderen drei Abenden ging es um den Umgang mit Demenzkranken.
Ich habe aus diesem Seminar sehr viel mitgenommen. Aber drei Dinge, die uns die Seminarleiterin (unter anderem) mit auf den Weg gegeben hat, haben mir in der folgenden Zeit am meisten geholfen:
- Die Person mit Demenz ist und bleibt ein Mensch mit Gefühlen und seine Würde ist zu respektieren.
- Versuche, Dich in die Lage der dementen Person zu versetzen, und stelle Dir vor, wie Du in dieser Situation gerne behandelt werden würdest.
- Wie kann man sich Demenz vorstellen? Stell Dir einfach vor, Du bist mitten im tiefsten China, in einem kleinen Dorf, mitten auf dem Marktplatz und möchtest nach Hause. Nur, die Menschen verstehen Dich nicht und Du verstehst die Menschen nicht. Vor allem dieser Vergleich hat sich tief bei mir eingeprägt und ich finde ihn sehr passend.
Zusätzlich zu diesen drei Dingen hat mir auch geholfen, was ich über das Thema „Validation“ gelesen habe. Versuchen, die Person mit Demenz, so zu nehmen, wie sie jetzt in diesem Moment ist und sie so sein lassen. Wenn das Essen mit Besteck nicht mehr geht, gibt es eben Fingerfood. Wenn das Anziehen nicht mehr geht, sucht man wenigstens die Kleiner gemeinsam aus und sagt zum Beispiel „komm ich helfe Dir mit dem Anziehen und dem Reißverschluss, der klemmt mal wieder“. Damit bin ich eigentlich sehr gut zurechtgekommen.
Es war nicht immer einfach und ja, ich habe auch oft die Geduld verloren, habe mich überfordert gefühlt, hatte nur wenig Hilfe von meinem Vater, aber ich habe immer wieder versucht, entspannt beziehungsweise entspannter zu bleiben und mir oft vorgestellt, wie es für mich wäre, wenn ich in der Lage meiner Mama wäre, wenn mir jemand anderes beim Waschen hilft / helfen muss, wenn mir jemand anderes beim Toilettengang hilft / helfen muss…..ich würde mich bestimmt auch sehr unwohl fühlen.
So, wie meine Mama drauf war, immer unabhängig, immer alles selber gemanagt, kann ich mir vorstellen, dass diese Situation für sie auch nicht sehr einfach war. Wir zwei haben uns dann aber irgendwie arrangiert und mit der Zeit wurden wir dann auch ein eingespieltes Team.
Als Mama bettlägerig wurde, stand ich vor einer Herausforderung
Bis dann Mitte Mai 2023 von jetzt auf nachher Mama nicht mehr laufen konnte und bettlägerig wurde. Da stand ich dann schon wieder vor einer Herausforderung. Pflegebett, Toilettenstuhl, Rollstuhl waren schnell organisiert. Und dieses Mal habe ich mir auch den Pflegedienst mit ins Boot geholt. Diese kamen vormittags zum Waschen und Wickeln und haben mir auch gezeigt, was ich beachten muss, wenn ich das abends mache.
Rückblickend muss ich sagen, meine Mama hatte schon ein gutes Timing. Dank Corona und Home-Office war ich in der glücklichen Lage, auch tagsüber immer mal wieder nach Mama zu schauen und alles von zu Hause aus zu organisieren. Das hat es wirklich leichter gemacht und so hat Corona doch auch noch etwas Gutes gehabt.
Mein Trost ist, dass sie zum Schluss keine Schmerzen hatte
Irgendwann hat mir eine der Pflegeschwestern auch von den Brückenschwestern erzählt, da sich der Zustand meiner Mama zusehends verschlechterte und sie auch offensichtlich Schmerzen hatte. Bei der Hausärztin und beim Neurologen bin ich leider nicht weitergekommen und so habe ich mich entschlossen, bei dem Palliativ Care Team anzurufen. Sie haben sogar eine 24-Stunden-Hotline und waren super hilfsbereit und nett.
Natürlich war es Samstag, als sich Mama immer schlechter fühlte und ich ihr keine große Hilfe war. Schlucken ging nicht mehr, so dass ich ihr noch nicht mal eine Schmerztablette auflösen konnte. Innerhalb von 12 Stunden war von dem Palliativ Care Team eine Schwester bei uns vor Ort, hat einen Blick auf Mama geworfen und sofort gewusst, was los ist und vor allem was zu tun ist. Sie hat Mama eine Pumpe gelegt und ihr auf diese Weise Schmerzmittel verabreicht.
Mama wurde zusehends entspannter und ich konnte sie auch wieder anfassen, ohne dass sie vor Schmerzen gestöhnt hat. Aber das Beste war, dass wir ihren 80. Geburtstag „feiern“ konnten. Ich habe ihr die Karten vorgelesen, ihr gratuliert, ein Liedchen vorgesungen und ihr ihren Geburtstagshut aufgesetzt. So, wie wir es halt immer gemacht hatten. Und ich bin mir sicher, sie hat davon etwas mitbekommen. Sie konnte es nur nicht mehr zeigen und nichts mehr dazu sagen.
Ja, ich muss in der Vergangenheitsform schreiben, denn einen Tag nach ihrem Geburtstag ist sie abends um 22 Uhr friedlich eingeschlafen. Mein Trost ist, dass sie zum Schluss keine Schmerzen mehr hatte. Ich hoffe, dass es ihr jetzt da, wo sie ist, besser geht.
Die Körpersprache wird immer wichtiger
Mein Fazit ist, die Körpersprache wird immer wichtiger. Je mehr man auf die Person, die mir der Demenz kämpft, achtet, desto mehr bekommt man auch mit und kann von den Gesichtszügen lesen. Und die Person teilt einem auch ganz genau mit, was sie will. Und diese Wünsche sollte man auch unbedingt respektieren. Kneifen sie die Lippen zusammen, weil sie nicht mehr gefüttert werden wollen oder nicht mehr trinken wollen, so sollte man sie auch nicht dazu zwingen. Die Person zeigt einem schon, wann sie einen Bedarf hat. Bei meiner Mama war es so, dass sie dann an einem Finger gesaugt hat, wenn sie ein Flüssigkeitsbedürfnis hatte.
Auch die Palliativschwester hat mich in dieser Vorgehensweise bestärkt. Der Patient steht in diesen letzten Tagen im Mittelpunkt. Aber auch ich habe mich in diesen Tagen endlich mal wieder verstanden und aufgehoben gefühlt. Der Schritt ist mir schon ein wenig schwergefallen, aber ich bin froh, dass ich ihn gegangen bin. Palliativ bedeutet zwar, dass das Ende nah ist, aber es bedeutet auch, dass es ein schmerzfreies, schönes Ende wird. Die Schwestern sind sehr einfühlsam und fürsorglich und ermöglichen dem Patienten einen würdevollen, menschlichen Abschied aus dieser Welt.
Die letzten drei Jahre waren voller Höhen und Tiefen. Aber auch dank Deinem Blog, liebe Peggy, habe ich mich immer weiter entwickeln können und konnte mir Tipps und Tricks holen, Ratgeber, Inspiration. Einfach auch nur zu lesen, dass es auch andere gibt, die mit diesen Problemen zu kämpfen haben, hat mir schon sehr geholfen.
Ich wünsche Dir, liebe Peggy, weiterhin alles Liebe und Gute. Deine Mama ist sehr gut aufgehoben bei Euch in der Familie und Ihr macht das alles wundervoll..
Liebe Grüße
Deine Marion”
Danke, liebe Marion, für deine Offenheit. Deine Geschichte zu lesen, hat mir viel Mut gemacht!
Deine Peggy
Ein Gedanke zu „Gastbeitrag von Marion: “Die Körpersprache wird immer wichtiger”“