Viele Jahre lagen mehrere hundert Kilometer zwischen ihnen und doch kümmerte sich Christa um ihre Mutter. Sie organisierte die medizinische Versorgung und Pflege für ihre Mutter, die an einer bipolaren Störung litt und später die Diagnose vaskuläre Demenz erhielt. Der Vater wollte nicht abgeben, aber irgendwann war klar: So geht es nicht weiter. Hier schreibt Christa über ihre Erfahrungen mit ihrer Mutter, was sich durch die Diagnose änderte und wie sie ihre Mutter schließlich in ein Heim in ihre Nähe holte. Christa sagt: “Ich bin so dankbar um die gemeinsame intensive Zeit mit Mama. Diese Zeit hätte ich nie anders haben können.”

Jeder Angehörige macht unterschiedliche Erfahrungen mit der Demenz – und viele Erfahrungen ähneln sich. Das mag wie ein Widerspruch klingen, zeigt aber vor allem, wie vielfältig das Leben und der Umgang mit einer Demenzerkrankung sind. Wenn Angehörige von ihren eigenen Erfahrungen berichten, so hat das das Potential, anderen einen Einblick zu geben und ein Stück weit mehr über die Demenz zu lernen. Ich möchte mit meinem Blog ein wenig dazu beitragen. Und ich freue mich, wenn hier auch andere Angehörige berichten, die Beiträge findet ihr in der Rubrik Gastbeiträge.
Hier schreibt Christa über ihre Erfahrungen mit ihrer Mutter, was sich durch die Diagnose änderte, wie sie ihre Mutter schließlich in ein Heim in ihre Nähe holte. und über die letzten gemeinsamen Monate.
Diese Themen findest du in diesem Blog-Artikel
“Plan A, Plan B und dann doch Plan C”
von Christa R.
Meine Mama war jemand, die gerne in Gesellschaft war und sich in Vereinen vor allem bei Veranstaltungen engagierte und einbrachte. Hier blühte sie auf, denn ihr Alltag war von harter körperlicher Arbeit geprägt und viel Zeit, die sie auf dem Bauernhof allein verbringen musste. Meine Eltern hatten eine Nebenerwerbslandwirtschaft. Mama auf dem Hof, Papa in der Arbeit.
Es begann in den Wechseljahren
Mit etwa 50 Jahren wurde Mama komisch. Sie zog sich oft zurück, konnte sich an nichts mehr freuen und wusste manchmal nicht, wie sie die viele Arbeit erledigen sollte. Es folgten Jahre mit wochenlangen Aufenthalten in der Psychiatrie, dann auch wieder helle Zeiten. Die Diagnose vorerst Depression und etwas später bipolare Störung. Man sagte uns, dass man depressive Menschen gut medikamentös einstellen könne und sogar heilen kann. Eine bipolare Störung hingegen könne man unter Umständen gut behandeln, jedoch nicht heilen.
In meinen jungen Jahren, ich war gerade am Sprung das Elternhaus zum Studieren zu verlassen, war das ein harter Schlag für uns alle. Ich bin sehr dankbar, dass ich neben meinem fast gleichaltrigen Bruder, meine Tante, die Schwester meiner Mutter, als eine Art Ersatzmutter zur Seite hatte, um diese Zeit und auch die kommenden Jahre zu meistern.
Die Diagnose vaskuläre Demenz kommt hinzu
Nach vielen Jahren mit wechselnden Medikamenten, wechselnden Ärzten, und wiederkehrenden stationären Aufenthalten führte uns der Weg 2018 in eine Memoryklinik. Hier erhielten wir die zusätzliche neue Diagnose: vaskuläre Demenz.
Damit hatten wir nicht gerechnet. Mama war zwar kognitiv eingeschränkt, wir schrieben dies jedoch der psychischen Erkrankung zu. Was bedeutete das nun? Es bedeutete, dass neben der Bewältigung von manischen und depressiven Phasen eine weitere nicht heilbare Erkrankung hinzukam. Mir war klar, Mama wird nicht mehr gesund und ein leichtes Leben als Seniorin wird es nie geben. Bis dahin hatte ich die Hoffnung nicht aufgegeben, durch den „richtigen“ Arzt oder das „richtige“ Medikament, sie aus ihrem Teufelskreis zu befreien.
Längst war ich trotz der Distanz von 300 km die Betreuerin von Mama geworden. Ich sprach mit den Ärzten und diskutierte dann mit Papa und Bruder über mögliche Schritte. Schon drei Jahre vorher beantragten wir eine Pflegestufe.
Wenn Mama zu Hause und nicht in der Psychiatrie war, kam der ambulante Pflegedienst. Das funktionierte mittelmäßig. Mama hatte Schwierigkeiten, sich auf die täglich wechselnden Pflegerinnen einzulassen. Für sie war es zu viel Veränderung und Unruhe. Zu diesem Zeitpunkt befanden wir uns in unserem „Plan A“. Dieser funktionierte irgendwie, Mama schien jedoch unglücklich und äußerte oft, dass sie das nicht mehr wolle
Plötzlich neue Herausforderungen
Bevor wir einen neuen Plan aufsetzen konnten, ereilte Mama eine Akuterkrankung, die sie nur knapp überlebte. Nach wochenlangem Krankhausaufenthalt und Wiedererlenen von Gehen und Essen, kam sie in der Nähe meines Bruders in ein Pflegeheim. Hier konnte sie sehr regelmäßig besucht werden und sie machte gute körperliche, sowie in ihrem Rahmen, kognitive Fortschritte.
Die Entlassung nahte und somit kam „Plan B“ zum Tragen. Dieser sah vor, eine 24-Stunden-Betreuung zu Hause einzusetzen. Durch eine Betreuung von zwei wechselnden Damen erhofften wir uns eine beständige Betreuung, die Mama Sicherheit geben und Papa entlasten sollte. Im Haus war genug Platz und wir hatten bereits ein schönes Pflegerinnenzimmer eingerichtet. Trotz sehr vielen Bemühungen seitens der Pflegerinnen und viel Verständnis seitens meines Vaters, gelang es nicht, Mama in eine ruhige Verfassung zu bringen.
Ihr Alltag war geprägt vom Wechsel zwischen Trauer und Verzweiflung. Dann kam Corona und der Wegfall der 24-Stunden-Betreuung. Mama hatte sich bis dahin körperlich so gut erholt, dass wir wieder auf „Plan A“, die Betreuung mit ambulantem Pflegedienst zurückgreifen konnten. Papa traute sich das zu. Ich war sehr erleichtert. Zu dem Zeitpunkt wusste niemand, wie lange sich die Corona-Zeit hinziehen sollte. Wenn es die Bestimmungen erlaubten fuhr ich zu Ihnen.
Papa hat doch auch ein Leben.
Genau analysierte ich die Verfassung von Mama und auch die von Papa. Immer wieder fragte ich Papa, ob er das noch schafft. Und er solle bitte sagen, wenn es nicht mehr geht. Wir finden dann eine Lösung. Papa verneinte immer. Das geht schon, meinte er. Für Mama ist das so das Beste. Nach einiger Zeit bestand die Möglichkeit zur Tagespflege. Mama kam anfangs zwei Tage und später drei Tage die Woche hin. Ich war wieder erleichtert.
Nun hatte Papa endlich auch wieder Zeit, seinen Bedürfnissen und Interessen nachzugehen. Er war zu dem Zeitpunkt bereits über 80 Jahre. Papa hat doch auch ein Leben. Irgendwann fing Mama an, Ihre Anspannung im Schreien zu äußern. Immer wieder fragte ich Papa, ob er das noch schafft. Ja, das schaffe ich und für Mama ist es so das Beste. Ich machte mir Sorgen. Warum soll es nur für Mama das Beste sein?
Papa ist mit über 80 Jahren körperlich und geistig noch fit. Meiner Ansicht nach opferte er sich auf. Das wollte ich nicht. Dann wurden die Nächte schwieriger. Mama wachte oft auf und schrie. Papa musste sie beruhigen und schlief somit auch immer schlechter.
Ich konnte es kaum ertragen, wenn ich es live mitbekam. Um irgendetwas zu tun, hörte ich mich in Pflegeheimen in der Nähe um und ließ Mama auf Wartelisten setzten. Das könne dauern, meinten alle Heime.
Plan C: Entlastung für Papa – Mamas erster Umzug
Weihnachten 2022 kam die Wende. Papa äußerte zum ersten Mal, dass er die Pflege wohl nächstes Jahr nicht mehr schaffen würde. Gleich nach den Feiertagen rief ich bei einem Heim in meiner Nähe an. Mama kannte es schon aus der Kurzzeitpflege. Es klappte sofort. „Plan C“ kam zum Tragen. Wir waren uns alle einig, dass dies ein riesiger Glücksfall und der absolut richtige Schritt war.
Meine gesamte Familie machte sich jedoch auch sogleich Sorgen um mich, da mit dieser Entscheidung klar war, dass ich allein Mama nun begleiten werde. Sie wäre dann 300 km von Papa entfernt. Einen Heimplatz konnten wir uns nur für Mama leisten. Ich hatte Respekt vor dem was kommt, aber freute mich sehr, dass Papa endlich entlastet werden konnte.
Mama erzählten wir erstmal nur, dass sie wieder zu mir ins Heim kommt. Sie hatte schöne Erinnerungen und sich dort während der Kurzzeitpflege wohlgefühlt. Außerdem konnte sie ihre Enkel sehr regelmäßig sehen. Der Umzug ins Heim war der erste Umzug ihres Lebens. Das hat mich sehr bewegt. Meine Töchter und ich haben ihr ein schönes Zimmer eingerichtet und viele Ausflüge mit ihr unternommen.
Ich nahm mir vor, sie jeden zweiten Tag zu besuchen. Das Heim war nur 200 Meter von meiner Wohnung entfernt. Da ich viel von zu Hause arbeite, konnte ich mir die Besuche flexibel einteilen. Mit der Zeit bemerkte ich bei mir eine immer stärker werdende Verantwortung. Mama wirkte auf mich hilflos und traurig. Ich konnte nicht anders, als jeden Tag zu ihr zu gehen. Meist für circa eine Stunde. Gerne vor dem Mittag oder Abendessen, damit sie im Anschluss nicht allein war.
Intensive gemeinsame Wochen
Das Heim war sehr engagiert. Die Pflegerinnen waren durchweg sehr nett und empathisch. Dennoch konnten sie Mama nicht erreichen. Sie war sehr in sich gekehrt und empfand überhaupt keine Freude. Das machte mich auch traurig. Wenn ich das Heim verlassen hatte, machte ich erst einen Spaziergang oder ging zum Sport, um mich zu sammeln.
Ständig beschäftigte mich, wie ich Mamas Bedürfnisse erkennen kann und wie ich ihr helfen könnte. Ich begann mich näher mit Demenz zu beschäftigen. Durch den Kontakt mit Peggy bekam ich die Empfehlung zum Kurs Edukation Demenz von Desideria Care. Hier lernte ich zum einen Gleichgesinnte kennen und viel über die Erkrankung. Das hat mich gestärkt und ich konnte Zusammenhänge besser verstehen.
Mama ist nach Monaten des Aufenthalts ihren eigenen Weg gegangen. An Ostern bekam sie gesundheitliche Probleme und kam kurz ins Krankenhaus. Ich war verzweifelt, weil ich nicht wusste, ob alles für sie getan wurde. Nach der Rückkehr ins Heim war ich noch öfter bei ihr. Mama musste gefüttert werden und sie nahm ausschließlich Essen und Trinken von mir an.
Nach einigen Tagen wollte sie nichts mehr. Sie hatte mir ein klares Zeichen gegeben. Sagen konnte sie es nicht, aber zeigen: Sie wollte nicht mehr. Ich war erleichtert. Mama hatte entschieden. Mama starb am 8. Mai. Ich bin so dankbar um die gemeinsame intensive Zeit mit Mama. Diese Zeit hätte ich nie anders haben können. Ich bin auch unendlich froh, dass Papa so mutig war, sich einzugestehen, dass er es nicht mehr schafft.
Ich bin sehr traurig, dass Mama gegangen ist, aber froh, dass Papa nun wieder ein Leben hat.
Vielen Dank, lieber Christa, für deinen Gastbeitrag und dass du deine Erfahrungen an dieser Stelle so offen teilst!
Du möchtest auch von deinen Erfahrungen berichten? Ich freue mich, wenn andere ihre Erfahrungen teilen, denn so können wir von- und miteinander lernen. Wie geht es euch als Angehörige eines Menschen mit Demenz? Was sind eure Herausforderungen und welche Lösungen findet ihr? Was wünscht ihr euch von anderen? Schreibt mir gerne an peggy@alzheimerundwir.com
Ich freue mich, von dir zu hören!
Danke für diese Schilderung! Plan C erinnert mich sehr an den Weg, den wir vor einem Jahr mit meiner an Demenz erkrankten Mutter gegangen sind. Auch hier wurde die schmerzliche Einsicht meines pflegenden Vaters, die Aufgabe nicht länger mit ambulanter Hilfe zu Hause zu schaffen, zum Wendepunkt: Es folgte ein Umzug in ein Pflegeheim in meiner Nähe (rund 150 km entfernt). Und ein kleines Wunder: meine Mutter lebte dort nochmal für eine kurze Zeit auf, wirkte geradezu fröhlich, klarer, unglaublich erleichtert (vermutlich weil sie lange schon sehr in Sorge war, dass mein Vater irgendwann ganz zusammenbricht – das so aber nicht sagen konnte). Ich besuchte sie täglich und wir erlebten eine wirklich gute Zeit. Aber dann ließen die Kräfte rapide nach und auch hier sehr deutliche Zeichen: Jetzt ist es gut. Und jetzt ist es auch genug. Das Heim hat ihre letzte Woche palliativ sehr aufmerksam begleitet und wir konnten bis zu ihrem letzten Atemzug in vertrauter Atmosphäre bei ihr bleiben. Im Rückblick denke ich: Anfangs war ich unsicher, ob der „große Umzug“ am Ende des Lebens die richtige Entscheidung wäre. Aber es gibt bis zum Schluss deutliche Zeichen und Signale, die man wahrnehmen und lesen lernen kann – und denen darf man dann auch vertrauen. Das hilft auch den Angehörigen in ihrer oft großen Not und Zerrissenheit. Ich bin dankbar, dass sie uns am Ende einen so friedlichen Weg gezeigt hat und ich ihr diesen Wunsch in einem passenden Haus erfüllen konnte.
Liebe Susanne, vielen Dank fürs Teilen deiner Erfahrung! Ja, stimmt, die Wege ähneln sich durchaus… Ich denke, so etwas wie der Umzug ins Heim braucht oft einfach lange und gerade für pflegende Partner ist es eine extreme Herausforderung. Wie gut, dass dein Vater dann doch den Weg gegangen ist. Ich finde es sehr wohltuend, von eurer dann doch positiven Erfahrung im Pflegeheim zu hören. Das Thema Pflegeheim ist ja irgendwie immer schwierig und mit viel Angst besetzt. Erfahrungen wie deine machen mir – und anderen Angehörigen sicher auch – Mut. Danke dir!