"Liebe Mama..."

Liebe Mama, würdest du gerne mal wieder ans Meer fahren?

Endlich mal wieder Urlaub! Es waren schöne Tage für mich und meine Familie in Italien. Und doch war auch das schlechte Gewissen dabei. Hätte ich nicht eher zu meinen Eltern fahren müssen, um meinen Papa zu unterstützen? Oder hätte ich meine Eltern mitnehmen sollen? Vielleicht wäre Mama auch gerne mal wieder am Meer gewesen. Ein Hin und Her der Gefühle ist in mir, aber ich weiß auch, wenn ich ehrlich bin, dass ich diese Reise, so wie sie war, gebraucht habe – und alles andere nicht geschafft hätte.

Meer_Muscheln_Italien

Liebe Mama, würdest du gerne mal wieder ans Meer fahren?

Findest du es merkwürdig, dass ich diese Frage stelle? Vielleicht ist sie das. Ein wenig wegen der Corona-Situation, vor allem aber, weil Papa und du schon seit Jahren nicht mehr verreist seid. Es ist, wie mit so vielen Dingen durch deine Alzheimererkrankung: Irgendwann haben sie aufgehört. Sie haben sich verabschiedet, ohne dass man Abschied nehmen konnte.

Ich weiß gar nicht mehr genau, wann du das letzte Mal im Urlaub warst. Dein letzter Besuch bei mir in München liegt fünf Jahre zurück. Die Reise war schwierig für dich, du hattest Angst vor dem Hotel und warst voll Unruhe. Danach habt ihr noch eine kleine Reise gemacht, zu meinem Bruder. Und seitdem war es das mit dem Verreisen.

Als ich mit meinen Mädchen in Italien war, habe ich oft an dich gedacht. Papa hat mir ein “Erhole dich gut” mit auf den Weg gegeben. In seiner Stimme klang ein wenig Sehnsucht. “Oh Venedig!”, wiederholte er immer wieder, als ich ihm vor Wochen von meinen Plänen erzählt hatte. “Da würde ich auch gerne mal wieder hin!”, rief er. “Naja, vielleicht…”, sagte ich und dachte darüber nach, ob das irgendwie funktionieren könnte, mit dir und ihm und mir und den Kindern – aber schon beim Nachdenken habe ich gemerkt: Ich schaffe das nicht, für so viele Menschen gleichzeitig da zu sein. Ich brauche wirklich Urlaub.

Und ich dachte daran, was Anja in unserer letzten Podcastfolge von “Leben, Lieben, Pflegen” zum Thema “Urlaub mit Demenz” gesagt hatte: Man sollte sich das klar werden, wer wirklich verreisen möchte und ob man dem Menschen mit Demenz damit einen Gefallen tut.

In Italien habe ich so oft an dich gedacht

Als wir mit dem Vaporetto durch Venedig fuhren, da habe ich an dich gedacht. Als du damals von deiner ersten Venedigreise zurückkamst, hast du begeistert von den Kanälen und den Brücken erzählt. Von der berühmten Rialto-Brücke und dem Dogenpalast.

Als ich im Hostel in der Morgensonne saß und für Sekunden alles friedlich war, weil die Kinder Croissants aßen und ich den besten Cappuccino trank, da habe ich an dich gedacht.

Als ich am Strand saß und den Kindern zugeschaut habe, wie sie eifrig Muscheln sammelten, da habe ich daran gedacht, wie du und ich am Strand von Bornholm Muscheln gesucht haben. Wie wir durch den feinen Sandstrand gelaufen sind. Du hast zu Hause damit gebastelt und dekoriert, wie du es mit all den Fundstücken aus der Natur getan hast.

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Du und ich vor vielen Jahren am Strand in Schweden

Würdest du auch gerne mal wieder die Wellen spüren?

Liebe Mama, würdest du auch mal wieder gerne am Meer sitzen und spüren, wie die Wellen sachte über deine Füße schwappen? Oder im Meer stehen und dich mit dem Wasser hin- und herschaukeln lassen?

Ja, ich bin mir sicher, dass du deine Freude daran hättst. Und ich hätte es wunderbar gefunden, dich bei mir zu haben.

Aber was wäre mit dem Drumherum? Die Routine und die Ruhe zu Hause tun dir gut. Du schläfst sehr viel und ich habe das Gefühl, dass die Struktur mit der Tagespflege für dich wichtig ist. Für dich wäre eine so weite Reise – und da darf ich mir nichts vormachen – auch eine große Anstrengung. Das wäre sie auch für Papa.

In Gedanken bei dir

Ich hätte euch gerne dabei gehabt, aber ich wusste auch, dass ich so viel Kraft nicht habe. Ist das egoistisch? Oder ist es das, was ExpertInnen mit Selbstfürsorge meinen? Ich hatte ein wenig ein schlechtes Gewissen, aber ich wusste und weiß auch, dass es so richtig war, wie es war.

Ich war am Meer. Du warst zu Hause. Aber in Gedanken, da warst du mit bei uns, bist in die Wellen gesprungen, hast gerufen “Wie schön” und danach Muscheln gesammelt.

Und dann merke ich, ich sitze am Meer, mit meinen Hoffnungen, Wünschen und Erinnerungen und muss mal wieder Abschied nehmen.

Deine Peggy

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