"Liebe Mama..."

Liebe Peggy… – Brief an mein 10 Jahre jüngeres Ich

Dieses Mal schreibe ich keinen Brief an meine Mama, sondern einen an mich – und zwar an mein zehn Jahre jüngeres Ich. Damals war Mamas Alzheimerdiagnose noch ganz frisch und ich voller Angst und Sorgen. Heute sehe ich so manches mit anderen Augen. Und wenn ich zurückblicke, merke ich, dass ich mich anfangs sehr auf die Medizin und Arzneimittel fokussiert habe. Ich habe ängstlich auf meine Mama geschaut und sehr viel über die Zukunft gegrübelt. In diesem Brief geht es um die Dinge, die ich der Peggy von vor zehn Jahren gerne mit auf den Weg geben würde. Vor allem würde ich ihr sagen: Liebe Peggy, hab nicht so viel Angst!

Liebe Peggy, hab nicht so viel Angst!

Ich schreibe dir diesen Brief aus der Zukunft und ich weiß, im Rückblick hat man immer leicht reden. Aber wenn ich dir nur eine Sache mit auf den Weg geben dürfte, dann wäre es diese: Hab nicht so viel Angst!

Liebe Peggy, ich bin zehn Jahre von dir entfernt in der Zukunft. Aber ich sitze an demselben Schreibtisch, wie du damals und sehe, wie es dir geht.

Du sitzt dort abends manchmal und schreibst in dein Tagebuch. „Ich habe Angst vor der Zukunft“ notierst du in deinem kleinen braunen Büchlein und während du es schreibst, kommen dir die Tränen. Du telefonierst mit deiner besten Freundin und hoffst, dass ihr Vater, der Arzt ist, irgendwelche Medikamente kennt, die deine Mama wieder gesund machen. Aber natürlich kann er dir keine nennen, denn diese Arzneien gibt es auch heute, zehn Jahre später, noch immer nicht.

Du wirst deine Mama noch lange um dich haben

Die Diagnose Alzheimer hat dich erst gelähmt. Du ahntest, dass Mama krank ist. Sie war in den Monaten zuvor häufig unkonzentriert, hatte am Telefon unaufmerksam gewirkt und wenn du sie besucht hast, wirkte sie uninteressiert. Sie hat nicht nachgefragt und ist auf deine Erzählungen nicht eingegangen. Du dachtest, sie hat einen Burnout und warst sogar froh, als sie endlich in die Klinik ging, um das abklären zu lassen. Als dein Papa dich anrief und sagte: „Deine Mutti hat Alzheimer“, konntest du es nicht glauben. Du hast sofort an Pflegeheim gedacht und daran, dass sie dich bald nicht mehr erkennt.

Liebe Peggy, warum denkst du sofort an das Ende? Ich möchte dir Mut machen und darf dir sagen, dass deine Mama auch zehn Jahre später glücklich zu Hause leben wird. Du denkst, dass Krebs die bessere Diagnose wäre, weil es dann eine Chance auf Heilung gäbe. Aber Peggy, deine Mama ist heute die gleiche wie gestern. Und sie wird es auch in einer Woche noch sein.

Eine Alzheimererkrankung ist nichts, was rapide voranschreitet. Die Veränderungen treten über einen langen Zeitraum auf – und du wirst deine Mama lange noch um dich haben. Du wirst noch zwei weitere Töchter bekommen – und deine Mama wird viel Freude an den Babys haben.

Liebe Peggy, sieh hin, was deine Mama jetzt braucht.

Du machst dir so viele Sorgen über die Zukunft. Du stellst deinen Wunsch nach einem zweiten Kind infrage. Du hast Angst vor den Aufgaben, die da kommen könnten – und das überwältigt dich. Ich fühle mit dir. Mir geht das heute auch noch manchmal so, aber dieses Gedankenkarussell macht es nur schlimmer.

Du stellst alles infrage und fühlst dich hilflos, anstatt den Moment zu genießen. Du sorgst dich so sehr und grübelst nach dem perfekten Plan, dass du gar nicht wirklich siehst, was deiner Mama und dir jetzt guttut. Du verpasst dabei vielleicht sogar kleine Glücksmomente.

Du wirst irgendwann entdecken, dass es dir hilft, zu meditieren. Fang doch bald damit an, ja? Trau dich auf deinen Körper zu hören und vor allem: Trau dich, zu deinen sorgenvollen Gedanken auch mal „Nein“ zu sagen. Du hast viel mehr in der Hand als du denkst.

Liebe Peggy, schaue auf die bunten Seiten.

Jahre später wirst du bei Anja, die du noch nicht kennst, aber mit der du mal einen Podcast starten wirst (was Podcasts sind, wirst du noch erfahren) ein Zitat von Marc Aurel lesen:

„Mit der Zeit nimmt die Seele die Farbe deiner Gedanken an.“

Liebe Peggy, schaue auf die bunten Seiten. Hole ein wenig Farbe in dein Leben. Du möchtest deiner Mama zu Weihnachten Acrylfarben und Leinwände schenken, damit sie malen kann. Du hoffst, dass sie auf andere Gedanken kommt, als nur die traurigen. Aber was wäre, wenn du auch damit anfängst? Fang an, die schönen Dinge in deinem Leben festzuhalten. Dann wirst du für all die Aufgaben, die da noch kommen, besser vorbereitet sein, als wenn du dich sorgst. Finde deine persönlichen Kraftquellen und bewahre sie dir.

Du musst jetzt nicht für alles eine perfekte Lösung haben. Nach der Diagnose deiner Mama hast du viele Ratgeber über Alzheimer gelesen. Du hast nach Studien über neue Medikamente gesucht und du hoffst, dass da ein Mittel auftaucht, das Alzheimer heilen kann. Du setzt große Hoffnungen in das Medikament, das deine Mama jetzt nimmt.

Aber da ist noch so viel mehr und vor allem so viel, das du tun kannst. Du hilfst deiner Mama langfristig viel mehr, wenn du weißt, was sie glücklich macht. Was sind denn ihre Lieblingslieder? Hat sie einen Lieblingsduft? An welchen Stellen wird sie gerne gestreichelt? Und wie schaut sie, wenn ihr alles zu viel wird? Du kannst ihr mit all diesen Dingen zehn Jahre später viele Glücksmomente schenken und so dazu beitragen, dass es ihr gut geht.

Finde deinen, euren Weg und öffne dich!

Ich möchte es nicht schönreden. Mit der Zeit wird deine Mama immer mehr Unterstützung benötigen. Dein Papa wird an seine Grenzen kommen, du wirst oft traurig sein und deiner Mama nachtrauern. Du wirst sie vermissen, obwohl sie neben dir sitzt auf der Couch.

Aber, liebe Peggy, hab nicht so viel Angst! Du wirst merken, dass deine Mama auch zehn Jahre später noch derselbe liebe, fröhliche, herzensgute Mensch ist. Ihr Lächeln und Lachen, ihr schelmisches Grinsen, das wird dich begleiten.

Und wenn ich dir noch einen Tipp geben kann: Fang bald mit dem Bloggen an. Du wirst diese Idee mehrere Jahre mit dir herumtragen, aber es immer wieder aufschieben, aus Angst… Du wirst merken, wenn du dich dann endlich traust, hilft es dir und dem ein oder anderen auch.

Liebe Peggy, fang an dich zu öffnen. Schreibe deiner Mama Briefe, fange an mit ihr zu erzählen und finde heraus, wie es ihr geht und was ihr guttut. Tausche dich mit anderen Angehörigen aus, es wird dich durch viele schwierige Situationen und Gedanken tragen. Du wirst viel lernen und entdecken auf diesem Weg. Sieh es als einen Weg, als deinen ganz besonderen Weg. Es ist nicht das Ende, auch wenn du das so oft denkst.

Du wirst dich neu entdecken, auch deine Mama. Vertrau dir, liebe Peggy und vertrau dem Leben!

Hab bitte nicht so viel Angst!

Deine Peggy aus dem Jahr 2021

7 Gedanken zu „Liebe Peggy… – Brief an mein 10 Jahre jüngeres Ich“

  1. Ein sehr, sehr berührender Brief – vielen DANK!
    Ja, wenn das mit dem weniger Angst haben doch nur einfacher wäre…

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