Ein bisschen vergesslich ist jeder Mensch. Wann ist der richtige Zeitpunkt, um zum Arzt zu gehen? „Ich bin immer wieder überrascht, wie lange die Familien die Symptome aushalten“, sagt der Neurologe Dr. Michael Lorrain. Er plädiert dafür, schon bei den ersten Anzeichen zum Arzt zu gehen. Das Problem: die ersten Anzeichen sind oft so unspezifisch, dass Betroffene und Angehörige nicht unbedingt eine Demenz vermuten – oder sie nicht bemerken wollen. „Man muss dem auch Zeit geben. Es ist ein großer Schritt, überhaupt die Vermutung zuzulassen, dass es eine Demenz sein könnte“, meint Familien-Coach Anja Kälin. Wie also findet man da einen Weg? Und: Warum ist eine frühe Demenz-Diagnose wichtig?

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Demenz-Symptome bei den Eltern? Oft schwer zu erkennen
Ist das Demenz – oder nur ein wenig Vergesslichkeit? Kennt ihr diese Frage? Ich stelle sie mir manchmal, wenn ich ältere Menschen sehe oder Freunde stellen sie mir. Ich stelle sie mir auch, wenn ich meinen Schlüssel verlegt habe und suche oder wenn ich an einer Kreuzung stehe und nicht mehr weiß, in welche Richtung ich fahren oder gehen soll. Ist das Demenz? – Komischerweise habe ich mich das bei meiner Mama damals nicht gefragt. Nie im Leben habe ich mit einer Krankheit wie Alzheimer gerechnet. Als sie die Diagnose bekommen hat, konnte ich das kaum glauben. Meine Mama und ALZHEIMER?
„Da hat sich in den vergangenen Jahren wenig geändert. Demenz ist immer noch ein Tabuthema. Wenn sich Mutter oder Vater verändern und Symptome einer Demenz zeigen, fällt das Kindern schwer zu sehen. “Es ist fast so, als ob Mutter und Vater nicht krank sein dürfen“, erzählt mir Dr. Michael Lorrain, Neurologe in Düsseldorf und Vorsitzender des Vorstandes der Alzheimer-Forschung Initiative.
Meine Mama hat damals Symptome gezeigt – und ich habe sie wahrgenommen, aber ich habe sie nicht mit einer Demenz in Verbindung gebracht. Vielleicht, weil sie damals erst 55 Jahre alt war und damit sehr jung für eine Alzheimer-Diagnose. Vielleicht auch, weil ich im tiefen Inneren einfach nicht wollte, dass sie krank ist. Sie sollte für immer meine liebe, sich um mich kümmernde Mama sein. Natürlich, ich war längst erwachsen und selbst Mutter, aber irgendwie bleibt man ja immer das Kind seiner Eltern.
Als ich mit Anja Kälin für unseren Podcast „Leben, Lieben, Pflegen“ über das Thema Diagnose gesprochen, hat sie mir Ähnliches erzählt. „Vielleicht waren kleine Irritationen da, aber über die sind wir sehr locker rübergegangen, weil ja auch so viele andere Themen da waren, die irgendwie schöner und wichtiger waren“, hat sie mir erzählt.
Unklare Symptome erschweren die Diagnose
Aber – und darin liegt vielleicht auch eines der Hauptprobleme: Die Symptome sind gar nicht so eindeutig und klar einer Demenz zuzuordnen. Und sie treten meist schleichend in das Leben der Betroffenen. „Die ersten sichtbaren Symptome tauchen vier bis fünf Jahre vor der Diagnose auf“, erklärt der Neurologe Lorrain. Häufig handele es sich um diffuse Symptome wie Schwierigkeiten beim Erinnern, Konzentrationsschwierigkeiten und Orientierungsprobleme, aber auch Wortfindungsstörungen oder ein gestörter Schlaf-Wach-Rhythmus können darauf hindeuten.
Im Rückblick erinnere ich mich, dass ich meine Mama so manches Mal unaufmerksam fand. Sie wiederholte die gleichen Fragen mehrmals. Oder suchte häufig ihre Armbanduhr. Bei Einkaufen wollte sie ein paar Mal Eierlöffel kaufen. Ein anderes Mal fiel ihr immer wieder ein, dass sie noch ein Deo brauchte, obwohl daheim noch zwei im Schrank standen. Aber es waren nur Kleinigkeiten und ganz ehrlich, ich suche meine Uhr oder meinen Schlüssel auch beinahe täglich. Und beim Einkaufen vergesse ich auch häufig etwas. Damals tat ich das genervt ab. Dass es erste Anzeichen einer Krankheit waren, das habe ich nicht einmal in Betracht gezogen.
„Die Symptome sind individuell sehr unterschiedlich – und von außen ist es schwer zu erkennen, ob es sich um eine Demenzerkrankung handelt“, erklärt Michael Lorrain. Er plädiert dafür, sich schon bei den ersten Anzeichen an den Arzt zu wenden, entweder an den Hausarzt, einen Neurologen oder eine Gedächtnisambulanz. „Zum Neurologen oder Psychiater zu gehen, ist nicht schick, aber zur Krebsvorsorge geht man ja auch ab einem gewissen Alter. Ich empfehle, ab 70 Jahren alle zwei Jahre einen Gedächtnistest zu machen“, sagt Lorrain.
Vorteile einer frühen Demenz-Diagnose
Braucht es das? Was bringt es? Nun ja: Ein regelmäßiger beziehungsweise früher Test kann eine frühe Diagnose bringen. Der große Vorteil liegt auf der Hand: Dank einer frühen Diagnose kann eine frühe Therapie eingeleitet werden. Denn je nach Demenzform ist auch eine andere Behandlung notwendig. „Zwar gibt es keine Heilung, aber mit den richtigen Medikamenten kann man den Verlauf häufig verzögern“, erzählt er.
Der Arzt meiner Mama sprach damals davon, dass man so noch ein paar schöne Jahre gewinnen könnte. Und im Diagnose-Schock erschien uns das wie ein großer Lichtblick. Meine Mama hat die Diagnose Alzheimer tatsächlich sehr früh bekommen und ja, in den ersten Jahren mit der Krankheit, ging es ihr gut und der Alzheimer entwickelte sich relativ langsam. Insofern war dies sicher positiv.
Und dennoch: Auch wenn eine frühe Diagnose sinnvoll ist, braucht es Zeit. Das ist mir im Podcast-Gespräch mit Anja klar geworden. „Es ist ein großer Schritt, die Vermutung zuzulassen, dass es eine Demenz sein könnte“, hat sie gesagt. Denn anders als andere Krankheiten, ist von Anfang an klar, dass eine Demenz nicht heilbar ist. Anders als bei Krebs, wo es immer eine Chance – egal wie gering sie ist – auf ein Gesundwerden gibt, so ist sie bei Alzheimer ausgeschlossen.

Das Worksheet unterstützt dabei, mit der Diagnose Demenz umzugehen
Vorteil einer frühen Diagnose
Was ich aber vor allem auch als Vorteil einer frühen Diagnose ansehe: Man hat ausreichend Zeit, sich mit dem Thema zu beschäftigen und mitzubestimmen, was man sich für den weiteren Verlauf vorstellt. Die Alzheimer-Diagnose meiner Mama brachte tatsächlich erstmals ins Rollen, dass wir in der Familie darüber sprachen, wie meine Eltern alt werden und sterben möchten.
Obwohl ich mich mit meiner Mama immer offen über alles ausgetauscht hatte, hatte ich keine Ahnung davon, ob sie sich vorstellen könnte in einem Heim zu leben, wo sie sterben möchte oder was Ärzte tun dürfen, wenn sie nicht mehr eigenständig essen oder trinken oder atmen kann. Und hätte sie nicht diese schreckliche Diagnose (das ist die Alzheimer-Erkrankung für mich bis heute) bekommen, wüsste ich es vermutlich immer noch nicht.
Die Diagnose hat aber auch für mich viele Dinge ins Rollen gebracht. „Wenn sich einer verändert – und eine Demenz ist eine große Veränderung -, dann beeinflusst das auch die Menschen um ihn herum“, sagte Anja Kälin. Die Diagnose brachte auch neue Unsicherheiten und Ungewissheiten. “Wie geht es weiter?”, fragten wir uns. Die Diagnose hat uns als Familie wieder näher zueinander gebracht. Sie hat mir deutlich gemacht, dass meine Eltern nicht für immer auf dieser Welt sein werden, genauso wenig wie ich, und dass ich unsere gemeinsame Zeit möglichst schön gestalten und genießen sollte.

“Leben, Lieben, Pflegen”: 2 Diagnose Demenz
In der zweiten Folge von „Leben, Lieben, Pflegen – Der Podcast zu Demenz und Familie“ sprechen Anja Kälin von Desideria Care und ich über das Thema Diagnose. Es geht darum, welche Symptome auf eine Demenz hindeuten können, warum es oft so lange dauert bis die Diagnose gestellt wird und warum es einem als Tochter (oder Sohn) häufig schwerfällt, die Diagnose anzunehmen. In „Leben, Lieben, Pflegen“ tauschen wir uns regelmäßig über Themen aus, die Angehörige von Menschen mit Demenz interessieren, berichten offen von unseren Erfahrungen und hoffen, dass wir anderen Familien mit Demenz dadurch helfen. Den Podcast gibt’s auf allen gängigen Podcast-Plattformen.

Folge 2: Nach der Diagnose: Einen neuen Fahrplan finden – Leben, Lieben, Pflegen – Der Podcast zu Demenz und Familie
Liebe Peggy, ich finde deinen neuen Beitrag wirklich sehr gelungen. Schön, dass unsere Zusammenarbeit so fruchtbar ist. ich hoffe wir können dadurch andere Familien bei dem Thema wirklich unterstützen.
Lieben Gruß
Anja
Liebe Anja, oh, danke für deine Rückmeldung. Ja, das wünsche ich mir auch 😉 lieben Gruß, Peggy